𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝚅𝚒𝚎𝚛𝚞𝚗𝚍𝚍𝚛𝚎𝚒𝚜𝚜𝚒𝚐

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Acht Wochen vor dem Unfall – Jo's Geburtstag:

»Okay, Emi. Ich glaube, es reicht mit den Shots!«, versuchte die selbst sehr angetrunkene Jo mir den nächsten Tequilashot aus der Hand zu nehmen.

So schnell wie meine Reaktion noch sein konnte, entriss ich ihr meinen Arm und kippte den Alkohol runter. Mein Magen meldete etwas, was sich wie Übelkeit anfühlte, doch ich ignorierte es und machte mich zur Tanzfläche auf.

Alles drehte sich. Doch es war irgendwie befreiend. Ich war wie betäubt. Nichts machte mir mehr Sorgen. Kein Julian in der Nähe mit dem ich diskutieren konnte, und auch kein Blake, der mir mit blöden Anmachsprüchen auf den Geist ging.

Beim nächsten Wimpernschlag stockte ich.
Da spielte mir mein Gehirn sicherlich einen Streich. Ich meine, ich hatte gerade an ihn gedacht, er konnte doch nicht wirklich nun dort stehen.

Oder doch?

Gegenwart:

Kaum bin ich mit dem Sonnenschein auf meiner Seite um die Ecke, ziehen auch schon wieder dunkle Wolken auf. Ich sehe direkt an Jo und meinen Bruder an Jo's Spind stehen, wie sie sehr vertraut miteinander sprechen.

Und nicht auf die Art, von wegen wir haben das gleiche Geheimnis vor Emilia. Nein, die Blicke, die die beiden austauschen, kenne ich nur zu gut. Bevor ich mir aber darunter etwas vorstellen kann, ist Simon weg und Jo verschließt gut gelaunt ihr Schließfach.

In dem Moment, als sie sich zu mir umdreht, stehe ich schon direkt vor ihr. Kurz zuckt sie so zusammen, als habe ich sie gerade dabei erwischt, wie sie eine Leiche vergräbt. Sie fühlt sich eindeutig ertappt und kaschiert ihre jetzt verschwitzten Finger damit, dass sie ihre Arme vor der Brust verschränkt.

»Hi!«, sagt sie schließlich. Prüfend mache ich es ihr nach und versuche dabei, ihr Geheimnis aus ihren Augen herauszulesen. Doch es gelingt mir nicht einmal für eine Sekunde.

»Essen?«, frage ich sie bloß. Sie scheint deutlich erleichtert, dass ich danach frage. Nickend hebt sie ihre Tasche vom kalten Boden auf und wirft sie sich über die Schulter.

In der Cafeteria haben uns die anderen Mädels zwei Plätze an einem Tisch am Fenster freigehalten. Nachdem Jo und ich bezahlt haben, halte ich sie noch zurück. Ich möchte vorher mit ihr reden, bevor die ganze Mannschaft mit Fragen auf mich einprasselt.

Ich ziehe sie am Unterarm zurück. Sie dreht sich so ruckartig um, dass ich fast ihre Haare aus dem dunkeln Zopf ins Gesicht geschlagen bekomme. »Jo?«
»Ja?«
»Was weißt du wirklich? Über mich und meine Vergangenheit?«, frage ich geradeheraus. Meine beste Freundin sieht mir von einem Auge in das andere. Überraschenderweise seufzt sie dann schwer.

»Ich hatte gehofft, dass du mir diese Frage beantworten kannst!« Verdutzt sehe ich sie an. »Ich weiß rein gar nichts und das macht mich wahnsinnig. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie du dich seit deinem Unfall fühlen musst.« Traurig nicke ich, denn auch ihre Augen werden glasig.

»Ich habe mir am Montag solche Sorgen um dich gemacht. Du hast mir nie erzählt, was vor deinem Unfall mit Blake und Julian passiert ist, deswegen bin ich total aufgeschmissen. Dabei will ich dir doch eigentlich nur helfen!«

Seufzend verlagere ich mein Gewicht auf das andere Bein. »Meine Mutter hat meinen Arzt bestochen, mir etwas nicht zu erzählen.«

»WAS?«, brüllt Jo, woraufhin sich einige Schüler in unserer Umgebung zu uns umdrehen. Wir setzen uns an einen Tisch weit weg von allen anderen und ernten einige fragende Blicke von den Mädels aus der Mannschaft. Besonders Lauren starrt uns länger an. Sie erwartet vermutlich auch eine Erklärung, aber sie darf niemals wissen, was Jo weiß.

»Sie hat was?«, hakt meine beste Freundin noch einmal nach, als wir uns gerade gegenüber voneinander am Tisch niederlassen. »Von dem, was ich mitbekommen habe, kann ich nur sagen, was ich gesehen habe. Einen Umschlag mit Geld. Vermutlich.«

Jo sieht tatsächlich so aus, als habe sie keinen blassen Schimmer, wovon ich rede. Ein riesiger Stein fällt mir vom Herzen und mir wird zum ersten Mal erst richtig bewusst, dass sie vermutlich wirklich genau so wenig Ahnung von meinem Leben hat, wie ich selbst.
»Warum hat sie das gemacht?«

»Ich habe keine Ahnung«, gebe ich schulterzuckend zu. Das ist die Frage, die ich mir schon seit Tagen stelle und die mir wie meine Albträume den Schlaf rauben. »Hast du deine Eltern darauf angesprochen? Also ich meine, Simon hat ja schon erzählt, was bei euch zu Hause gerade so abgeht, aber hat deine Mutter dir einen Grund genannt?«

Ich schüttle heftig den Kopf und ignoriere den Fakt, dass Simon lieber mit meiner Freundin spricht als mit seiner eigenen Schwester.

Aber angesichts der Tatsache, dass mir jedes Mitglied meiner Familie derzeitig am Arsch vorbeigeht, ist das wohl verständlich, dass sich auch Simon jemanden zum Reden sucht.

»Sie hat kein Sterbenswörtchen gesagt. Obwohl ich ihnen die Chance dazu gegeben habe. Sie haben es nicht verleugnet. Sie haben einfach geschwiegen... Seitdem rede ich weder mit ihr noch mit Dad. Mit Simon auch nicht wirklich.«

»Aber was könnten sie dir denn so wichtiges verheimlichen?«, wundert sich auch Jo. Erneut seufze ich, aber eher darüber, dass ich froh bin, dass zumindest eine Person genauso ratlos ist wie ich.

Selbst Julian weiß mehr und sagt trotzdem nichts. Aber wenn Jo wirklich komplett auf meiner Seite ist, kann ich zumindest für heute durchatmen.
»Wenn ich das wüsste...«

»Vielleicht ist noch etwas an deinem Unfall passiert. Vielleicht warst doch du Schuld und hast insgeheim ein Gerichtsverfahren im Nacken!«, philosophiert Jo, doch ich runzle die Stirn.

Das würde zwar zu meinen Eltern passen, dann müssten sie allerdings einen Richter bestechen und keinen Arzt.

Jo versteht das sofort und hat schon wieder eine neue Idee.
»Was hat der Arzt dir gesagt, wie wahrscheinlich es ist, dass du dich wieder erinnerst?«
»Fünf Prozent. Aber selbst das hat sich ja zur Null hingewendet.«

»Vielleicht eben auch nicht«, sagt sie mit geheimnisvollem Unterton und ich werde plötzlich hellhörig.

»Du meinst, vielleicht bestechen sie den Arzt, mir das nur zu sagen, dass ich mich nicht erinnern werde und dabei...«
»Kannst du es vielleicht doch«, beendet Jo den Satz für mich.

Irgendwie würde das Sinn ergeben. Es wäre zumindest ein plausibler Grund, warum meine Eltern dafür ihren und im Übrigen auch Doktor Rolands Job aufs Spiel setzen.

»Aber warum sollten sie wollen, dass ich glaube, ich kann mich nicht erinnern? Vielleicht ist es doch was ganz anderes!«

Jo sieht meine Besorgnis und Verzweiflung. Sie greift fürsorglich nach meiner Hand und tätschelt sie kurz. »Egal, was es ist, wir werden es herausfinden. Du kommst aus dieser Sache nicht unwissend heraus!«

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Where stories live. Discover now