𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙵𝚞̈𝚗𝚏

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Zwei Jahre vor dem Unfall:

Meine Eltern erlaubten mir im Sommer aus Prinzip länger wegzubleiben. Sie hatten keine Angst um mich, da es länger hell draußen war. Genau das nutzte ich aus.

Da war dieser Kerl. Blake. Er ging schon seit der ersten Klasse mit mir zur Schule. Eigentlich hatte ich ihn nie gemocht. Doch an dem Abend war alles anders.

Wir waren mit den Cheerleadern und den Basketballern unterwegs. Wir machten am Wasser ein verbotenes Lagerfeuer. Alles erschien mir so aufregend. Wir beobachteten alle den Himmel, bis er verdunkelte. Simon war stockbesoffen, weshalb Blake mich nach Hause brachte.

Vor meiner Haustür passierte dann das Unerwartete. Blake küsste mich. Er schüttete mir sein Herz aus und ich war mir nicht ganz sicher, ob er nicht auch betrunken war.

Also vergaß ich den Vorfall einfach. Nie hatte ich mit ihm darüber geredet, weil ich dachte, er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Doch das konnte er und er zeigte keine Scheu, mir seine Gefühle noch einmal zu gestehen. Aus dem unfreundlichen, prolligen Kerl wurde ein gefühlvoller und netter Blake.

Tja, und ich hatte gedacht, die, die man am längsten kennt, kennt man auch am besten.

Gegenwart:

Ich liege im Bett. Als täte ich das nicht ohnehin den ganzen Tag.
Nach meinem kleinen Aussetzer in der Stadt hat der Arzt mir noch mehr Medikamente verschrieben. Ganz ehrlich, ich habe mich schon besser gefühlt in den letzten drei Wochen.

All die fremden Gesichter haben mich überfordert. Namen, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Ich wollte doch erstmal die noch anderen unbeantworteten Fragen klären. Jetzt bin ich noch überforderter als davor.

Deswegen haben meine Eltern meine Sicherheit erhöht: Zur Schule kann ich jetzt erst noch später. Schön, dass sie mich hier im Bett vergammeln lassen.

Aber um ehrlich zu sein, bin ich auch ein wenig erleichtert. Dieses Gefühl gestern bei Lauren - ja ich weiß noch, wie sie heißt - war grauenvoll.

Wie dem auch sei, es gibt keine Besucher für mich.

Oft steht ein dunkelhaariges Mädchen vor der Tür; Jo. Mom lässt sie herein und ich höre kurz ihre gedämpften Stimmen. Aber nach oben darf keiner und ich darf nicht nach unten.

Wenn Jo wieder auf der Straße verschwindet, kommt meine Mutter ins Zimmer. Heute hatte sie Schokolade dabei.

»Deine Lieblingssorte!«, strahlt Magrit.
Dankbar setze ich ein Lächeln auf. Ich muss erwähnen, dass draußen fabelhaftes Wetter ist. Weit und breit keine Wolke in Sicht. Mein Zimmer strahlt dagegen nur Kälte aus.

Es folgt die übliche Leier:
»Wie geht es dir?«
»Gut. Was wollte Jo?«
»Dich sehen natürlich! Schöne Grüße und gute Besserung!«
»Danke!«

Das ist meistens alles, was die Unterhaltung beinhaltet. Ich glaube, meine Eltern wissen selbst nicht so richtig, wie sie mit dieser Situation umgehen sollen. Sie geben sich wirklich alle Mühe der Welt, aber ich bemerke, wie schwer es ihnen fällt, stark zu bleiben. Da ist manchmal dieser mitfühlende Blick in ihren Augen, der mich gar erstarren lässt. O man, ihre Tochter lag im Koma! Ich weiß nicht, ob sie schon über diesen Schock hinweg sind. Vielleicht sind sie deshalb noch so überfürsorglich?

Mein Bruder klopft an die Tür. »Herein!«, sage ich. Die Tür ist sowieso immer einen Spalt breit offen. Für den Notfall.

»Na du!« Mein Bruder hat eine ganz andere Vorstellung als meine Eltern, was der Unfall für mich bedeutet. Nicht selten hat er das Wort Neuanfang in den Mund genommen.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Where stories live. Discover now