𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙵𝚞̈𝚗𝚏𝚣𝚒𝚐

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Sechs Wochen vor dem Unfall:

»Was?« Ich brüllte Doktor Roland an. Das konnte nicht wahr sein. Es durfte einfach nicht stimmen.

»Das ist schon der zweite Test, den ich mache. Es tut mir leid, aber ich kann nichts daran ändern!« Panik stieg in mir auf. Was mir der Arzt gerade nach dem Test gesagt hatte, war ein Desaster und es gab keinen Ausweg.

Das konnte man nicht einfach irgendwie heilen. Es war da und ohne eine große Entscheidung zu treffen, würde es auch nicht wieder weggehen.

»Hör zu, Emilia! Sprich mit deinen Eltern darüber. Rede mit Blake.« Blake. O nein. Ihm musste ich das auch irgendwie beichten.
Und Julian! Ich hatte ihm gerade erst gebeichtet, was auf der Party passiert war! Und jetzt das?

Gegenwart:

Ich beruhigte mich nicht. Nicht nach zehn Minuten. Nicht nach fünfzehn und auch nicht nach zwanzig Minuten. Julian hob mich irgendwann hoch und hat mich an die frische Luft gebracht. Mir fehlte es nur noch, dass mich jemand sucht.

Hier draußen findet uns keiner und ich habe das Gefühl, dass meine angeschwollenen Augen wieder etwas vom Himmel erkennen können, der uns vom Rest des Universums trennt.

»Wie ist das passiert?«, mache ich Julian irgendwann durch Handbewegungen und Gekrächze klar. Anders als zuvor zögert er.

Normalerweise liebe ich es, im Winter meinen eigenen Atem sehen zu können, wenn draußen kältere Temperaturen herrschen. Im Moment weiß ich nicht einmal, ob ich vor Kälte, Angst oder Hitze zittere.

»Ich meine, ich meine, warum Blake und warum überhaupt und-?«, wieder schneidet mir der Schmerz in meiner Brust und Kehle das Wort ab. Julian legt seinen Arm um mich und ich vergrabe unwissend mein Gesicht in seinem Anzug.

»Du hattest dich schon längere Zeit von Blake getrennt, aber er hat es einfach nicht eingesehen. Ich glaube, es war Jo's Geburtstag. Ich habe dich da allein hingehen lassen, obwohl ich wusste, dass Blake es auf dich abgesehen hatte. Er hat dich abgefüllt und du wusstest nicht, was du machst.«

Ungläubig sehe ich ihn an. Ich war ihm fremdgegangen? Wie viel Alkohol muss da im Spiel gewesen sein?

»Und das hast du mir verziehen?« Mir ist durchaus bewusst, dass Julian und ich schon das ein oder andere durchgemacht haben und ich weiß auch, wie wichtig es gerade in unserer Beziehung ist, sich zu verzeihen, aber das. Das hätte nicht einmal ich mir selbst verziehen.

Zum ersten Mal überhaupt habe ich eine vage Vorstellung von meinem Leben vor dem Unfall und zum ersten Mal seitdem bin ich froh, nichts mehr darüber zu wissen.

»Wie konntest du mir das nicht bis an mein Lebensende übel nehmen?«

»Ich liebe dich!« Mehr sagt er dazu nicht und mehr braucht es auch nicht, damit ich ihn verstehen kann.

Die letzte Flüssigkeit aus meinem Körper wandert wieder zu meinen Tränensäckchen und meine Augen werden wieder feucht.
»Ich verstehe es nicht!«, bringe ich hervor und Julian seufzt schwer. »Ich auch nicht.« Dabei weiß keiner von uns, was genau der andere eigentlich meint.

Warum haben meine Eltern mich nach meinen Befragungen ein weiteres Mal belogen? Wer wusste alles davon? Ich bin mir nicht sicher, ob Simon meiner besten Freundin davon erzählt hat.

Doch irgendwie ergibt jetzt alles einen Sinn. Ich verstehe den Zusammenhang zwischen meiner Familie und Doktor Roland. Ich verstehe Blake's Aggressivität und sein anhängliches Verhalten. Ich verstehe, warum Julian manchmal noch so abwesend ist und ich verstehe sogar ein wenig, warum meine Eltern mir die Wahrheit verschwiegen haben.

Denn wie sich in dieser Nacht herausstellt, kann ich damit absolut nicht umgehen.

Ich bin auch nicht mehr wirklich wütend auf so ziemlich jeden aus meinem Umfeld. Wütend bin ich auf mich selbst und meine dämliche Neugier.

Das Schlimmste ist, dass ich mein Gehirn nicht noch einmal auslöschen kann und ich nun für immer damit leben muss, dass ich mit siebzehn schwanger war und das Kind bereits nach nicht mal drei Monaten verloren habe. Und das bevor ich überhaupt entscheiden konnte, wie ich damit umgehen soll.

»Du wolltest es behalten!«, sagt Julian zwischendrin, ohne dass ich ihn danach frage. Dabei bin ich noch gar nicht bereit für die Details. Julian spricht allerdings immer weiter. Ich glaube, er möchte nicht, dass wir beide in der Stille und somit in unseren Gedanken untergehen.

Außerdem hätte ich an seiner Stelle auch ein richtig schlechtes Gewissen und ich bin mir sicher, das hat er auch. Vermutlich will er bloß nicht, dass ich den Rest von jemand anderem erfahre.

»Deine Eltern wollten das Kind nicht. Dein Vater ist ausgerastet, als du es ihnen gesagt hast. Für sie kam es nur in Frage, dass du es abtreibst! Da hat es ihnen wohl ganz gut in den Kram gepasst, dass du vor Ablenkung von der Straße abgekommen bist...«

Nach und nach werden mir alle seltsamen Gespräche und Ereignisse klarer. Ich kann es nicht fassen, dass ich mit so etwas leben musste und nun wieder muss.
Und ich dachte, mein Leben jetzt sei kompliziert.

Plötzlich bin ich nicht mehr traurig, sondern unendlich wütend. »Du hättest es mir nicht sagen dürfen. Nicht heute und nicht hier!«, platzt es aus mir heraus. Julian, der einige Zentimeter von mir entfernt sitzt, weil ich mich bei jeglicher Nähe direkt wieder unwohl fühle, schreckt verwirrt zurück.

»Du hättest mich gehasst, wenn ich es dir auch nur eine Sekunde länger verschwiegen hätte«, macht er mir klar. Eigentlich machen seine Worte auch Sinn, aber nicht für mich. Für mich ist gerade alles durcheinander geworfen. Dick und fett steht vor meinem inneren Auge nur ein Satz: Sie haben dich alle belogen!

»Jetzt ist erst recht alles hinüber! Verdammt, warum ich?«, schreie ich in die dunkle Nacht hinein. Von drinnen hört man leise die gedämpfte Musik und das Gemurmel der Gäste, die dort gerade den schönsten Abend ihres Lebens haben.

So wie ich ihn auch haben wollte. Alles, was ich jetzt noch vernehme, ist das Zerspringen meines eigenen Herzens, das in tausend Stücke zerbricht.

»Es tut mir so leid!«, murmelt Julian wieder. Ich weiß nicht, was plötzlich in mich gefahren ist, aber auch ihn brülle ich nun an. »Ach ja? Denkst du das macht es besser? Denkst du, deine Entschuldigungen helfen mir da irgendwie wieder heraus?«

»Du weißt aber auch nicht, was du willst oder?«, faucht er zurück und ich blinzle ihn erschrocken an. »Erst jammerst du Monate lang herum, dass du nicht weißt, was in deinem Leben vorgefallen ist, und kaum weißt du es, wünscht du dir, es nicht zu wissen. Ich habe wirklich viel Verständnis, Em, aber mir jetzt die Schuld zu geben, wobei ich nichts für all das kann, ist echt das Letzte!«

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, um ihm recht zu geben. Niemand kann etwas dafür. Jeder hat ein längst besiegeltes Schicksal und meines kann ich auch nicht mehr selbst in die Hand nehmen.

Es ist passiert und ich sollte lernen damit zu leben.
Stattdessen streite ich mich mit der einzigen Person, die mich wahrscheinlich am meisten von allen liebt und respektiert.
»Du bist das Letzte. Ihr alle seid das. Ich brauche so etwas nicht in meinem Leben!«

Dummerweise habe ich nicht nur Julian damit verletzt. Mein eigentlicher Schrei nach Hilfe kommt in meinen Worten nicht rüber. Die Mauern um mich herum sind bereits zu hoch gebaut.

Alles in meiner Brust zieht sich schmerzhaft zusammen und ich bekomme nur noch wage mit, wie Julian mich einfach allein stehen lässt. Umso mehr hasse ich ihn für das was er getan hat.

Mehr hasse ich allerdings mich selbst, für das, was ich gerade getan habe.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Onde histórias criam vida. Descubra agora