𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝚉𝚠𝚎𝚒

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Acht Wochen vor dem Unfall:

Der Tag nach dem Geburtstag meiner besten Freundin wurde von mir offiziell zum schlimmsten überhaupt gekrönt. Zum einen, weil ich mich kaum an etwas erinnerte. Zum anderen, weil das, an was ich mich erinnerte, mir Grund zur Sorge bereitete.

Die eine wichtige Person meines Lebens war schon über alle Berge hinweg und ich konnte sie nicht zur Hilfe holen. Ebenso wenig wie die andere wichtige Person, mit der ich seit Wochen kein Wort sprach.
Es war offiziell: Ich musste der Teufel in Person sein, um es zu schaffen, beide zu verlieren und zu hintergehen.

Gegenwart:

Die Stimmung letzte Nacht ist zu merkwürdig gewesen, als dass ich sie noch länger ertragen konnte. Ich habe um Ruhe gebeten und die habe ich auch bekommen.
Doch heute ist ein neuer Tag und so einfach wie letzte Nacht kann ich der Wahrheit nicht mehr entkommen.

Alles was ich von den letzten siebzehn Jahren, wie ich erfahren habe, noch weiß, ist mein Name. Selbst den hat man mir sagen müssen. Aber es war ein Anfang, oder?

Noch immer quält mich die Frage danach, was wirklich passiert ist, wie es zu dem Unfall kam und wie ich das Krankenhaus schnellstmöglich verlassen kann.

Für die Krankenschwestern scheint mein Erwachen wie ein Wunder. Alle halbe Stunde kommt jemand anderes in den Raum und nimmt mir Blut ab, wechselt meine Verbände oder kontrolliert das ständig piepende Gerät.

Ansonsten, muss ich zugeben, ist mir zu 99% der Zeit langweilig. Wenn ich nicht schlafe, vergeht die Zeit einfach nicht und die Stunden werden gefühlt immer länger. Die Fragen nach meinem eigenen Leben quälen mich und hier drinnen habe ich sicher keine Chance, sie mir zu beantworten.

Niemand fragt nach irgendwelchen Vorfällen oder Erinnerungen. Deshalb bleibt mein merkwürdiger Albtraum auch mein Geheimnis. Ich plane auch, dem Arzt nichts zu sagen. Vermutlich sorge ich bloß für noch mehr Verwirrung. Laut meines Wissens habe ich durch mein Koma schon genug Schaden für die Menschen um mich herum angerichtet.

Zugegeben, manchmal wünsche ich mir, mein Puls würde aufhören, bloß damit ich das nervende Geräusch nicht mehr ertragen muss. Doch laut meiner Geschichte kann ich von Glück reden, überhaupt noch am Leben zu sein.

Als ich einmal zehn Minuten für mich habe, wage ich es, aufzustehen. Bisher hat der Arzt mir davon abgeraten, herumzulaufen, doch mein heiles Bein trägt mich wie automatisch ins Badezimmer.

Ein Blick in den Spiegel und ich erstarre. Natürlich habe ich vergessen, wie ich aussehe. Ich habe keine Ahnung, wer dieses fremde Mädchen im Spiegelbild ist.

Sie ist unglaublich schön. Vermutlich habe ich das vor meinem Unfall nicht von mir gedacht. Doch jetzt betrachte ich mich zum allerersten Mal. Ich finde das Mädchen im Spiegel hübsch. Sie hat wellige blonde Haare bis über die Schultern. Ihre blauen Augen strahlen wie der Himmel. Ihr Gesicht ist so markant wie das ihres Vaters und Bruders. Erst in dem Moment wird mir klar, wie ähnlich dieses Mädchen der einsamen Familie sieht. Dem Alter und der Ähnlichkeit nach zu urteilen, schließe ich, dass Simon der Zwillingsbruder von Emilia ist. Ich sehe blasse Sommersprossen und Grübchen, wenn ich meine Mundwinkel anhebe.
Dieses Mädchen im Spiegel ist bestimmt einmal glücklich gewesen.

Doch dann entdecke ich mich. Ich realisiere, wie ich tatsächlich aussehe. Mein Geist nimmt Gestalt an. Ich habe tiefe, dunkle Augenringe und überall Schürfwunden. Die Verbände an meinem Arm und Bein erscheinen mir lästig. Plötzlich krampfe ich schmerzhaft zusammen. In meinem Bauch zieht alles und es fühlt sich so an, als ramme mir jemand scharfe Klingen in den Unterleib.
Aufrecht zu stehen, kann mein Körper nach vier Wochen liegen wohl nicht. Mein heiler Arm hält meinen schmerzenden Bauch und ich kneife die Augen zusammen. Langsam lasse ich mich auf die kalten Fliesen nieder und rolle zusammen wie eine Kugel.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Où les histoires vivent. Découvrez maintenant