𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝚅𝚒𝚎𝚛

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Sechs Wochen vor dem Unfall:

»Mom?«
»Ja, mein Engel?«
»Können wir zum Arzt gehen?« Verdutzt schaute meine Mutter von ihrem Buch auf und rückte ihre Lesebrille zurecht.
»Wieso? Was ist passiert, Liebes?« Verlegen sah ich auf den Boden und wippte auf den Füßen vor und zurück.

»Ich weiß auch nicht. Mir ist nicht so gut in letzter Zeit!«
»Ach was! Deswegen musst du nicht gleich zum Arzt!«, redete sie mir meinen Wunsch aus, stand auf und ging in die Küche, um mir Wasser für einen Tee aufzusetzen.

Ich hoffte, sie hatte damit recht, dass ein Arztbesuch nicht nötig war. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass dies nicht wie gewöhnlich zu behandeln war.

Gegenwart:

Je mehr Zeit ich in diesem Haus verbringe, umso faszinierter bin ich. Wann auch immer wir hierhergezogen sind, ich danke meinen Eltern für diese Entscheidung.

Wie es aussieht, teile ich mir mit Simon ein Bad. Schon nach einem Tag habe ich den Weg dorthin im Schlaf drauf.

Meine Mutter bringt mir gefühlt stündlich Medikamente und abends noch etwas zu essen hoch. Wir haben mir einen provisorischen Esstisch über mein Bett gebaut, damit ich mich so wenig wie möglich bewegen muss.

Der anscheinend unerwünschte Besuch wird wie der damals im Krankenhaus schlichtweg totgeschwiegen. Ich habe keine Möglichkeit, weiter nachzuhaken, denn die Realität trifft mich hart:

Ich habe gerade niemand außer meiner Familie. Sie sind die einzigen, bei denen ich es mir einfach nicht leisten kann, sie wegzustoßen oder ihnen nicht zu glauben. Nach meinem kleinen Wutausbruch vorhin fühle ich mich so, als hätte ich als Tochter eine Grenze überschritten, deshalb belasse ich es vorerst dabei und konzentriere mich auf kleinere Dinge.

Ich liebe mein makelloses Zimmer. Daran besteht kein Zweifel. Alles ist so ordentlich und aufgeräumt. Mein Kleiderschrank ist ein Traum aus Stoff und Farbe in jeglichen Kombinationen.

Offensichtlich habe ich einen echt guten Geschmack. Noch einen Tag länger in diesem Krankenhauskittel und ich hätte den Verstand verloren.

Ich erwarte nicht, dass ich in der ersten Nacht in einem eigentlich fremden Bett gut schlafen kann. Deshalb lenke ich mich so lange wie noch möglich ab.

Doch draußen verabschiedet sich bereits die Sonne am Horizont und die Menschen kehren in ihre Häuser zurück, sodass es mir schon nach kurzer Zeit viel zu leise vorkommt.

Sonst beruhigte mich der Lärm im Krankenhaus immer. Die Schritte, die ich hörte, wenn jemand an meinem Zimmer vorbeilief. Die Telefone und gedämpften Stimmen, die bis in die Nacht nicht verstummten.

All das entspannte mich und zeigte mir, dass ich nicht allein war.
Aber jetzt wird es hier immer ruhiger. Irgendwann werden auch Magrit und Paul ins Bett gehen. Und davor habe ich Angst; dass mir meine Gedanken in der Stille zu laut vorkommen.

Es dauert recht lange, bis ich meine brennenden Augen schließe. Dieser Tag war mehr als anstrengend für mich. Ich weiß, dass die nächsten Wochen noch schwerer werden als im Krankenhaus.

Vermutlich verleiten mich diese Gedanken zu meinem Albtraum, den ich in dieser Nacht habe. Vielleicht gibt es auch einen anderen Grund, weil mir schnell bewusst wird, dass ich diesen Traum schon kenne.

Es ist der gleiche, den ich schon im Krankenhaus hatte. Mehrere Male.

Immer wieder aufs Neue versetzt es mir einen Stich und lässt mich eiskalt erschaudern.
Schweißgebadet wache ich also mitten in der Nacht auf. Um mich herum nehme ich sehr schnell die vielen Kissen wahr, die auf dem Boden und in meinem Bett unordentlich verteilt sind. Eigentlich weiß ich, dass es nur ein Traum war, aber dass ich ihn schon wieder träume, gibt mir nicht gerade große Hoffnungen auf eine schnelle Genesung.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt