𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙽𝚎𝚞𝚗𝚞𝚗𝚍𝚍𝚛𝚎𝚒𝚜𝚜𝚒𝚐

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Elf Wochen vor dem Unfall:

»Du würdest es mir doch sagen, oder?« Ich zog mich gerade vom Training um und Jo wartete wie gewohnt vor der Umkleide.

»Was?«, hakte sie nach. Seitdem ich in mein eigenes Drama verwickelt war, hatte ich kaum noch Zeit für Jo gefunden. Ich verbrachte jede freie Minute mit Julian und sie... naja, genau das wollte ich wissen.

»Du würdest mir sagen, wenn da was mit jemandem läuft?« Jo stützte sich vom Türrahmen ab. »Emi, selbst wenn ich eine Affäre mit deinem Cousin hätte, würde ich es dir sagen!«, versprach sie mir und obwohl das als Witz gemeint war, nahm ich sie todernst.

»Versprochen?«
»Hoch und heilig!«

Gegenwart:

Ich starre Jo nach, die schon lange hinter der Tür verschwunden ist. Hinter mir räuspert sich mein Bruder. Wir haben zwar noch immer kein Wort miteinander gesprochen, aber nachdem die Sache zwischen Julian und mir nun endgültig geklärt ist, bin ich für Vergebung offen.

»Wo warst du?«, fragt er mich und ich drehe mich zu ihm. »Bücher holen!«, antworte ich schnell und umklammere meine schwere Tasche.

»Nein, ich meine gestern Abend. Gestern Nacht!«, betont er besonders und ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Bei Jo, das weißt du doch.«

»Ich glaube nicht, dass du das warst«, schmunzelt er leicht. Im Ernst? Wenn Jo irgendetwas erzählt hat, dann mache ich sie noch heute einen Kopf kürzer.

Ich weiß, dass Simon auch schon ganz am Anfang auf meiner Seite war. Er hat mir immer geraten, mit Julian zu reden. Er hat überhaupt das Misstrauen in mir geweckt und mich dazu bewegt, meine Vergangenheit ans Licht zu bringen. Ich darf ihn nicht so sehr verurteilen, wie ich es gerade tue.

»Wie kommst du darauf?«, tue ich unschuldig. War Jo deshalb hier? Um mich zu verpetzen? Eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Schon gar nicht nach unserem Gespräch in der Cafeteria.

»Jo und du hättet sonst tausend neue Insider, über die ihr euch schlappgelacht hättet.« Das ist wohl wahr. Verdammt.

»Simon, ich-«, will ich mich schon rausreden. »Schon gut, wo warst du sonst?« Ich mache verlegen eine Pause. »Muss ich dir das wirklich noch sagen?« Meine Stimme ist so piepsig, wie die einer Maus. Simon grinst, worauf ich mir keinen Reim machen kann. »Ich glaube, ich verstehe schon.« Das ist alles, was er dazu sagt.

»Und das ist okay für dich?«, hake ich unsicher nach. Er könnte auch jede Sekunde zu Mom und Dad rennen und es ihnen erzählen. Doch er macht es nicht, denn er ist immer noch der Simon wie zuvor.

»Ja, warum auch nicht. Ich habe es mir sowieso schon gedacht, dass ihr früher oder später wieder zueinander findet.« Simon zuckt gelassen mit den Schultern. »Hauptsache, du bist von Blake weg.« O ja, darauf kann er sich verlassen.

»Und du sagst es nicht, Mom und Dad?« Simon macht zwei Schritte auf mich zu. »Glaubst du wirklich noch, dass ich das tun würde, Emi? Du bist meine kleine Schwester und ich würde dich nie verraten. Das habe ich auch nie. Es ist... es ist einfach alles irgendwie schief gelaufen in letzter Zeit.

Glaub mir, ich wollte dir von Doktor Roland erzählen. Aber ehe ich es selbst wusste, war es schon zu spät!« Schockiert sehe ich ihn an. Es ist das erste Mal, dass überhaupt jemand aus dieser Familie über den Vorfall spricht und ich wünschte augenblicklich, ich hätte Simon früher zugehört. Seine Aussage ist nicht perfekt, aber es fühlt sich so an, als fallen gerade zehn Tonnen Zement von meinem Herzen.

So viel Liebe ist fast schon zu viel für mich auf einmal und ich befinde mich eindeutig in einem Gefühlsüberschuss. Deshalb strecke ich meine Arme aus und drücke Simon so fest ich kann. Mein Bruder erwidert den Druck und vergräbt sein Gesicht in meinem Haar.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Where stories live. Discover now