𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙳𝚛𝚎𝚒𝚣𝚎𝚑𝚗

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Acht Wochen vor dem Unfall:

Simon kam in mein Zimmer und setzte seine übliche besorgte Miene auf. »Ich habe von der Party gehört!« Sofort sah ich zu ihm auf. »Was hast du gehört?« Mich überrannte die Panik. Was hatte mein Bruder bloß gehört? Von wem konnte er etwas wissen? Ich sprach doch selbst nicht einmal darüber, was an dem Abend vorgefallen war.

»Also eigentlich nur, dass du ziemlich gut drauf warst beim Thema Alkohol. Aber bei deinem Blick gerade, habe ich das Gefühl es steckt noch mehr dahinter. Was ist los Emi?«, wollte mein Zwilling wissen und ich kaute wie verrückt auf meiner Unterlippe herum.

»Nichts... Es ist... Ja, ich habe zu viel getrunken. Mehr nicht!«, quittierte ich das Thema und sah Simon nicht mehr in die Augen. Zumindest war das nicht gelogen.
Die komplette Wahrheit war es allerdings auch nicht.

Gegenwart:

Übers Wochenende machen wir einen Familienausflug, auf den ich mich wirklich freue. Zeit mit meiner Familie zu verbringen und ihnen näher zu kommen ist mir unheimlich wichtig. Besonders die Zeit mit Simon.

Er ist mein Bruder und ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass er bloß Abstand zu mir hält, weil er mich beschützen will. Das kann ich ihm nicht verübeln, auch wenn es unfair mir gegenüber ist.

Wir fahren eine knappe Stunde bis zum See. Es ist fabelhaftes Wetter und ich fühle mich wie im Paradies, wenn ich das Wasser rauschen höre. Angeblich haben wir schon öfter Ausflüge an den riesigen See gemacht. Familientradition also.

Der Anblick des blauschimmernden Wassers haut mich total um. Irgendwo in mir drin weiß ich zwar, wie sich rauschenden Wellen anfühlen und anhören, aber es mit eigenen Augen zu sehen und eine Vorstellung von einem richtigen Meer zu haben, erweckt all meine Instinkte.

Ich bleibe für einen Moment stehen und genieße die wärmende Sonne, wie sie direkt in mein Gesicht scheint. Meine Haut an den Armen und Beinen beginnt leicht zu kribbeln, da ich schon lange keine Sonne mehr gewöhnt bin.

Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich meinen Zwillingsbruder etwas weiter vorne am Wasser schlendern.
»Simon!« Ich halte es einfach nicht länger aus, mich mit meinem Bruder zu streiten.

Unsere Eltern laufen vor und schießen hier und da einige Fotos. Ich bildete das Schlusslicht und habe jetzt zu Simon aufgeholt. Er trägt seine Brille und seine hellen Haare wehen ihm in die Augen. Mit den Händen in den Hosentaschen wartet er auf mich.

»Können wir reden?« Meine Stimme ist sanft und zerbrechlich. Er ist mein Bruder und ich brauche ihn. »Worüber?« Das weiß er ganz genau. »Ich will nicht, dass du mir aus dem Weg gehst, weil du das Gefühl hast, mir etwas verheimlichen zu müssen.«

Ich erwarte Widerspruch, aber Simon dreht seinen Kopf zum Wasser und starrt in die Ferne. Weil das Gespräch noch nicht beendet ist, rede ich weiter.

»Egal, was vorher passiert ist, es ist vorbei. Ich kann es nicht rückgängig machen und du auch nicht. Mein Gedächtnis ist weg und ich werde meine Erinnerungen nicht wiederbekommen. Also entweder du erzählst mir, was du verheimlichst oder du behältst es weiterhin für dich und ich starte ein neues Leben. Aber nicht dieses Ich-gebe-dir-Tipps-kläre-dich-aber-nicht-auf-Geschwafel.«

Simon antwortet nicht. Er würde gerne, das sehe ich ihm an, aber er spricht nicht mit mir. Ich atme die angehaltene Luft aus.

»Gut, dann wäre das geklärt.« Ich habe verstanden, dass Simon nicht reden will. Dann soll er mich aber auch nicht ignorieren, denn ich habe es versucht. Vielleicht will er mich tatsächlich nur beschützen, dann muss ich das hinnehmen. Es kann sonst nichts Gutes heißen.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Where stories live. Discover now