𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝚂𝚎𝚌𝚑𝚜𝚞𝚗𝚍𝚟𝚒𝚎𝚛𝚣𝚒𝚐

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Sieben Monate vor dem Unfall:

»Mom? Ich habe dir doch vor längerer Zeit gesagt, dass das mit Blake nicht mehr funktioniert hat.« Meine Mutter saß in ihrem Büro und schrieb eifrig Notizen zu ihrem neunen Mandanten auf.

»Das hast du«, bestätigte sie mir ihre Aufmerksamkeit. Nicht lange zögerte ich, um ihr den eigentlichen Grund dafür zu nennen.

»Ich habe jetzt jemand Neues kennengelernt. Sein Name ist Julian!« Fest presste ich die Lippen aufeinander. Mir war eigentlich bewusst, wie sehr Mom für Blake schwärmte, aber wenn es um das Thema Jungs ging, wurde sie einfach wieder zum Teenager.

Sie blickte von ihrem Pink karierten Block auf und sah mich forschend an.

»Julian, hm? Klingt sehr charmant. Magst du ihn denn nicht mal einladen, Süße?«, bot sie mit einem unterdrückten Lächeln an. Langsam aber deutlich breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus. »Klar, mache ich sofort. Ich verspreche dir, du wirst ihn lieben!«

Gegenwart:

»Tut mir leid, wie meine Eltern reagiert haben!«, entschuldige ich mich am Telefon bei Julian. »Ich hätte es wissen müssen. Mir tut es leid, dass ich dich in so eine Lage gebracht habe. Ich weiß ja, wie es gerade zwischen dir und deinen Eltern steht.«

Ich schweige einige Sekunden. Meine Eltern haben mir nicht mehr erlaubt, das Haus zu verlassen. Es ist eine Sache, wenn sie mir die Wahrheit über Doktor Roland sagen. Aber mir immer noch zu verbieten, mit dem zusammen zu sein, den ich... ja, den ich mag, dann geht das meiner Meinung nach zu weit.

»Em?«, fragt Julian und ich werde blinzelnd zurück in die Gegenwart katapultiert. »Ja? Ja, tut mir leid. Ich bin noch dran.«

Gerade habe ich mich im Badezimmer eingeschlossen. Hier drinnen hallt es zwar schrecklich, aber nach draußen hin hört man kein Wort. Deswegen ist es sicherer, wenn ich hier mit Julian telefoniere.

Mich wundert ehrlich gesagt, dass meine Eltern noch nicht auf die Idee gekommen sind, mir das Handy abzunehmen. Beschweren werde ich mich aber nicht.

»Hast du großen Ärger bekommen?«, fragt er. Ihm ist deutlich anzuhören, dass er Schuldgefühle hat. »Nein, nicht wirklich. Ich bin sofort nach oben gegangen. Ich möchte nach dem halbwegs erträglichen Tag nicht noch mit meinen Eltern diskutieren.«

»Halbwegs erträglich?«, hakt Julian nach, während ich mich auf den unbequemen Rand der Badewanne setzen möchte, mich jedoch lieber für den kalten Fliesenboden entscheide. »Sie... sie haben es mir gesagt. Mit Doktor Roland«, gestehe ich.

Eigentlich wollte ich es Julian schon früher sagen, es hat sich aber kein günstiger Zeitpunkt gefunden. Vielleicht überrumple ich ihn ein bisschen, doch Julian weiß genau, was er sagen will.

»Die Wahrheit?«
»Ich hoffe es. Aber ich, ich denke schon. Ich meine, es ist wirklich zum Kotzen, um es so zu formulieren«, denke ich wieder darüber nach. So eine Entzündung oder Geschwür oder was auch immer soll man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Im Gegenteil, ich kann mir sogar vorstellen, wie belastend es sein musste.

»Es tut mir so leid, Em. Ehrlich!« Daraufhin schweigen wir beide durch die kabellose Leitung. Natürlich tut es ihm leid, aber mir tut es das auch. Er muss genauso gelitten haben und nach meinem Unfall noch viel mehr.

»Können wir uns sehen?«, frage ich, obwohl ich weiß, wie schwer es sein wird, mich heute herauszuschleichen. Julian bejaht nach kurzer Stille meine Frage. »Ich warte um kurz nach zwölf vor der Haustür!«, verabrede ich mit ihm. »Ich hole dich ab!«, bestätigt er und damit ist das Gespräch erst einmal beendet.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Where stories live. Discover now