𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙴𝚒𝚗𝚞𝚗𝚍𝚍𝚛𝚎𝚒𝚜𝚜𝚒𝚐

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Drei Wochen vor dem Unfall:

Ich wollte nicht mit ihm reden. Was er getan hatte, war unverzeihlich. Eigentlich hatte ich gedacht, dass wir das durchstehen würde. Doch dieses Mal war selbst Julian zu weit gegangen.

Verdammt...
Dann würde ich mich jetzt auch noch mit ihm streiten. Gönnte mir das Universum denn nicht einen Tag Pause?

Gegenwart:

Ich höre Schritte. Dann meine Tür und dann schnellere Schritte. Ich weiß nicht mehr, wann genau ich eingeschlafen bin und ob ich überhaupt geschlafen habe.

Es ist der Tag im Monat, an dem bei uns allen aufgrund einer Konferenz die ersten drei Stunden entfallen, weshalb Mom mich erst gegen zehn Uhr weckt.

Als habe ich es nicht geahnt, stürmt sie um Punkt zehn in mein Zimmer, und zu meinem Entsetzen mit Blake im Schlepptau. Ich hätte mir denken können, dass inzwischen auch er über den kleinen Vorfall mit dem Arzt Bescheid weiß.

Schmollend sitze ich aufrecht im Bett und starre in die Runde, zu der sich mittlerweile auch Simon gesellte.
»Guten Morgen!«, sagt Mom mit leiser, schüchterner Stimme.

»Was wollt ihr?«, zicke ich und Mom steht seufzend wieder auf. Wenn sie dachte, nach einer Nacht drüber schlafen, seien ihre Schandtaten vergessen, hat sie sich aber getäuscht. Sie schleppt Simon hinter sich her und lässt mich mit Blake allein.

»Wie geht es dir?«, fragt er bemüht und lässt sich auf meinem Bett nieder. Ich drehe mich zur Seite. Als ob er das nicht alles schon wüsste.

Ich gebe ihm keine Antwort, woraufhin er meinen Arm streichelt. Wie aus dem Nichts hole ich aus und schlage ihm auf die Finger. Was fällt ihm eigentlich ein?!

Ausweichend zieht er sich zurück. »Schön, wenn du dir nicht helfen lässt, kann ich auch nichts unternehmen! Steh auf, sonst kommst du noch zu spät zur Schule!«, schreibt er mir plötzlich vor und marschiert kurzerhand aus dem Zimmer.

Als ich mir sicher bin, dass er tatsächlich weg ist, drehe ich mich auf die Seite und bleibe einfach liegen.

***

Ich glaube ihnen nichts. Zumindest versuche ich das. Das ist nur wieder eine dieser Geschichten, die Blake sich ausgedacht hat, um bei meinen Eltern besser dazustehen.
Bei meinem langen Spaziergang in die Stadt kann ich wieder klarere Gedanken fassen. Julian hat das nicht getan. Er hat Blake nicht... Bis er ins Krankenhaus musste?

Allein der Gedanken scheint mir absurd. Warum ist dann da aber dieser Knoten in meinem Bauch?

Mom hat so überzeugt gewirkt. Das erste Mal, dass ich nicht auf Anhieb erkennen konnte, dass sie log oder mir etwas verschwieg.

Es würde meine Fragen rund um das Thema der Hassbeziehung zwischen meinen Eltern und Julian erklären...

Nein.
Solange ich Julian nicht darauf angesprochen habe, sollte ich keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Immer, wenn man denkt, es geht mal bergauf...

Das Schlimmste ist ja sowieso, dass wir auf das Thema bezüglich Doktor Roland gar nicht mehr zu sprechen gekommen sind.
Da wird wohl nochmal einiges auf mich zukommen...

Bis ich endlich bei Josie's, das mir schon einige öde Nachmittage gerettet hat, ankomme, ist es Mittag.

In die Schule zu gehen, lohnt sich sowieso nicht mehr und ich mache mir Sorgen um meine anfälligen Nerven. Die würden mit Mister Husher jetzt ganz sicher nicht klarkommen.

Als ich das Café betrete, packt mich zum einen die Müdigkeit. Die wenigen Stunden Schlaf in der letzten Nacht machen sich nach und nach bemerkbar. Zum anderen jedoch rumort mein Magen schrecklich, sobald ich all die belegten Sandwiches und Toast, das leckere Gebäck und den Geruch von frischem Kaffee wahrnehme.

Zum Glück klemmt in meiner Handyhülle immer meine Bestellkarte, womit man kinderleicht bei Josie's essen und trinken kann, ohne Bargeld zu bezahlen. Man hat nur ein Monatsabbo und muss seine Karte immer dann auftanken, wenn sie mal wieder leer ist. Zugegeben, das ist nicht selten der Fall bei mir.

»Einen großen Milchkaffee und die Knuspertasche, bitte!«, krächze ich und lege verlegen meine Hände in die Tasche meines Kapuzenpullis.

Dummerweise bin ich noch nicht dazu gekommen, mir seit gestern frische Klamotten anzuziehen, was ich augenblicklich bereue. Meine Haare sind eine einzige Tragödie und mit meinem Pulli im Juli ist es eigentlich viel zu warm.

Ich reiche der jungen Bedienung meine Karte und sie zieht sie nur durch das Scangerät neben der Kasse und schon kann ich mir meinen Kaffee und das Essen, das mich so herzlich anlacht, abholen.

Zwar ist die kleine dekorierte Sitzecke mein Lieblingsort, aber im Moment bin ich nicht in der Stimmung, um von irgendwem gesehen zu werden. Ein freier Zweiertisch an der Wand sticht mir in das Auge und ich marschiere direkt darauf zu, um den Platz zu ergattern.

Bevor ich von dem heißen Getränk probiere, beiße ich genüsslich in die gefüllte Knuspertasche. Es fühlt sich wie Jahre an, seitdem ich das letzte Mal etwas gegessen habe, auch wenn es höchstens zwanzig Stunden gewesen sein können.

Da ich so sehr in Gedanken vertieft bin und mich darauf zu fokussieren versuche, an nichts trauererregendes zu denken, bemerke ich erst zu spät, dass eine gewisse Mutter von einer gewissen Person mit gestylten Haaren, Make-Up und Lederhandtasche das Josie's betritt, um sich einen Kaffee für die Mittagspause zu kaufen.

Blakes Mutter macht, seit ich denken kann eine spezielle Diät, die sich darauf beschränkt, so viel schwarzen Kaffee mit Mahlzeiten zu ersetzen, wie es möglich ist. Völliger Schwachsinn, wenn mich jemand fragt. Aber das tut keiner.

Ich sinke weiter in den Sitz hinein, um unentdeckt zu bleiben. Die Mutter meines Ex jetzt zu treffen, steht nicht auf der Liste der Dinge, die ich unbedingt tun möchte.

Ich bekomme das ungute Gefühl, dass mein Lieblingsort in der ganzen Stadt zu einem Portal für den direkten Weg in die Hölle wird. Warum treffe ich hier immer die Personen, bei denen ich eigentlich vermeiden möchte, ihnen über den Weg zu laufen?

»Emilia?« O Gott, sie hat mich gesehen. »Hallo, Miss Hastings!« Sie hat mir schon einmal das Du angeboten, allerdings erscheint mir das angesichts der Situation mit ihrem Sohn nicht sehr angebracht. Sie sagt nichts dazu.

»Solltest du nicht in der Schule sein, Liebes?« Warum finde ich alle Personen aus dieser Familie so falsch? Mit ihren übermalten Lippen und glänzend weißen Zähnen erscheint sie so surreal.

»Ich habe eine Freistunde und bin für die Mittagspause hergefahren!«, lüge ich. Dabei kann ich mir denken, dass Blake ihr später von einer anderen Geschichte erzählen wird. Dann bin ich allerdings nicht mehr hier und muss diese Unterhaltung auch nicht mehr führen.
»Ach so, na dann!«

Sie lächelt mir nur zu und wünscht mir noch einen guten Appetit, bevor sie ihren Kaffee in die Hand nimmt, sich unnötig viel Zucker hinein schüttet, und wieder verschwindet. Wenn sie wüsste, dass ihre Diät vollkommen nutzlos ist, wenn sie den Kaffee mit Zucker tränkt...

Eigentlich habe ich erwartet, dass sie sich in die Beziehung zwischen Blake und mir einmischt, doch wenigstens scheint sie noch so viel Anstand zu besitzen, dass sie sich da heraushält. Ihr zu erklären, warum ich ihren Sohn habe sitzenlassen, wäre wirklich zu viel verlangt.

Hätte ich sie aber fragen sollen, ob ihr Sohn in den vergangenen Monaten das Krankenhaus aufgesucht hat? Und das nicht, um mich zu besuchen, sondern weil... Nein!

So schnell wie meine Gedanken rasen, so schnell vergeht die Zeit. Ich wäre überhaupt nicht fähig auch nur ein weiteres Gespräch zu führen. Ich glaube ich bleibe einfach den Rest des Tages untergetaucht.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt