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Ich habe keine Ahnung wie ich von Sebastians Elternhaus zu meiner Wohnung gekommen bin. Aber irgendwann finde ich mich schließlich in meiner Wohnung wieder. Ich muss wie in Trance hier her gefahren sein.

Ich streife meine Schuhe ab, hänge meine Jacke an die Garderobe und gehe ins Badezimmer. Obwohl es erst früher Abend ist, beginne ich mit meiner abendlichen Zubettgehroutine. Ich schminke mich ab und reinige danach mein Gesicht gründlich mit meiner Reinigungsbürste. Dann wasche ich den Schaum von meiner Haut ab und creme sie anschließend mit einer Feuchtigkeitscreme ein. Ich greife nach meiner Zahnbürste, drücke ein wenig Zahnpasta darauf, und beginne damit mir die Zähne zu putzen.

Das alles passiert automatisch. In Gedanken bin ich immer noch bei Sebastian.

Ich verstehe immer noch nicht, wie er mich vor solch eine Wahl stellen kann. Er weiß doch ganz genau, dass ich diese Entscheidung niemals treffen kann. Aber scheinbar muss ich.

Aber spricht nicht schon alleine die Tatsache, dass er mich überhaupt zu so einer Entscheidung zwingen will, für sich? Ist das nicht schon Grund genug, mich gegen ihn und für Wincent zu entscheiden?

Das Piepsen meines Handys holt mich aus meiner Gedankenwelt wieder zurück. Beim Blick in den Spiegel fällt mir auf, dass mein ganzes Kinn schon voller Zahnpastaschaum ist. Schnell halte ich mein Gesicht unter den Wasserhahn und wasche es ab.

Nachdem ich auch meine Zahnbürste abgewaschen und aufgeräumt habe, greife ich nach meinem Handy.

> Hast du schon mit deiner Mama gesprochen? <

Wincent.

Wincent würde mich nie vor diese Wahl stellen. Niemals. Das würde er nicht tun, weil er genau weiß, wie sehr mich das verletzten würde. Aber genau das tut Sebastian gerade. Mich verletzen.

Ich wähle die Nummer meiner Mama und erkläre ihr kurz den Stand der Dinge. Sie sagt, dass sie sich etwas überlegt und es dann selbst Wincent mitteilen wird. Wir besprechen noch kurz ein paar organisatorische Dinge für morgen und verabschieden uns dann voneinander.

> Meine Mama meldet sich später bei dir. <

Eigentlich bin ich ja immer noch wütend auf Wincent. Ich bin sogar richtig sauer, weil er auf dieses Biest Julia abfährt. Ich muss ihn irgendwie davon überzeugen, dass dieses Mädchen alles andere als nett ist. Aber wie? Ich kann ihm nichts von der Geschichte erzählen, denn dann wird er nur wütend darüber sein, dass ich ihm nicht von Anfang an die Wahrheit über Julia erzählt habe. Und wenn Sebastian und Wincent wütend auf mich wären - das könnte ich nicht ertragen. Einer von beiden reicht.

> Okay. Ich freue mich sehr auf dich! <

Die Nachricht blinkt auf meinem Handy auf. Ich tippe sie aber nicht an, sodass Wincent nicht weiß, dass ich sie gelesen habe. Ich drücke auf den Knopf an der Seite meines Handys, damit der Bildschirm dunkel wird und schließe seufzend meine Augen.

Mit den Händen stütze ich mich am Waschbecken ab und atme tief ein und aus. Immer wieder. Bis mir plötzlich die Tränen über mein Gesicht laufen. Ich kann es nicht aufhalten, es muss einfach raus. Aber wieso weine ich? Weil Sebastian mich vor die Wahl stellt? Weil Wincent auf Julia steht? Weil ich mich zwischen ihnen entscheiden muss? Oder weil ich mir nicht eingestehen will, dass die Entscheidung schon in dem Moment gefallen ist, als Sebastian von mir eine Entscheidung verlangt hat?

Irgendwann habe ich wohl in den Schlaf gefunden, denn ich schrecke mitten in der Nacht plötzlich aus dem Schlaf auf. Ich reibe mir kurz die Augen und sehe mich um, als könnte ich entdecken, was mich geweckt hat.

In dem Moment geht das Licht in meinem Flur an und ich erkenne Wincent, der sich möglichst leise in mein Badezimmer schleicht. Vermutlich bin ich vom Öffnen oder Schließen meiner Wohnungstüre aufgewacht.

Ich drehe mich wieder um, da ich gerade überhaupt keine Lust auf ein Gespräch mit Wincent habe. Er soll gar nicht erst merken, dass ich wach geworden bin. Mein Blick fällt auf den kleinen Haufen zerknüllter Taschentücher neben meinem Bett. Mist! Das wirft ungewollte Fragen auf. Ich drehe mich um, um mich zu vergewissern, dass Wincent immer noch im Bad ist. Dann greife ich schnell nach den Tüchern, öffne die unterste Schublade meines Nachtkästchens, und stopfe sie dort hinein.

Gerade noch rechtzeitig, als sich die Badezimmertür wieder öffnet, schließe ich die Schublade und tue wieder so, als würde ich seelenruhig schlafen.

Ich spüre Wincents Blick auf mir. Er sieht mich an. Er sieht mich lange an. Viel zu lange. Ich möchte meine Augen öffnen und ihm in seine Augen sehen. Ich möchte darin lesen. Ich möchte, dass ich darin sehen kann, wie ich mich entscheiden soll. Doch ich lasse meine Augen geschlossen.

Ich höre, wie Wincent sich auszieht und zu mir ans Bett kommt. Wieder spüre ich seinen Blick auf mir. Ich muss mich richtig anstrengen, meinen Puls zu beruhigen. Was ist nur los mit mir?

Wincent setzt sich zu mir auf das Bett. Ich versuche mich durch kontrolliert ruhiges Atmen ein wenig zu beruhigen, doch als ich Wincents Hand an meiner Wange spüre, ist die Kontrolle dahin. Mein Puls rast. Ich halte mit meinen Fingern krampfhaft die Decke fest, um mich irgendwie von Wincents Berührungen abzulenken.

Liebevoll streicht er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich spüre, wie sich das Gewicht auf dem Bett verlagert. Dann spüre ich Wincents Atem in meinem Gesicht. Er drückt mir einen sanften Kuss auf die Schläfe. Ein Kuss, der viel zu lange dauert.

Schließlich lässt er von mir ab und steht auf. Einen Moment lang höre ich nichts, als würde er vor meinem Bett stehen und überlegen, wohin er nun gehen soll. Ich höre meinen Bauch sagen, dass er sich zu mir legen soll, doch mein Kopf widerspricht. Wincents Kopf sagt offenbar dasselbe, denn er geht hinüber zu meinem Sofa.

Einige Minuten später, als es schon eine Weile lang still im Raum ist, öffne ich vorsichtig meine Augen. Wincent liegt mir gegenüber auf dem Sofa. Er hat seine Arme unter seinem Kopf verschränkt und... sieht mich an. Seine Augen sind fest auf mich geheftet. Reflexartig schließe ich meine Augen wieder. Wieso beobachtet er mich beim Schlafen? Und wieso macht es mir plötzlich etwas aus?

Ich öffne meine Augen wieder. Jetzt sind Wincents Augen geschlossen und seine Arme liegen links und rechts von ihm. Es sieht aus, als würde er schlafen.

Habe ich das eben etwa bloß geträumt? Hat er mich gar nicht beim Schlafen beobachtet? Ich habe nicht gehört, dass er seine Arme bewegt hätte. Vielleicht habe ich es mir wirklich nur eingebildet. Und was war dann mit dem Kuss? War der auch nur geträumt?

Mit Dir bin ich irgendwie anders - WincentWeiss (Teil 1)Where stories live. Discover now