72| Unexpected

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Kapitel 72
Unexpected
[Melody Rose Morgan]
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Zwölf Schritte bis zu der Haustür. Zwei Schritte von da aus bis ins Bad.
Zwei Minuten, in denen ich in den Spiegel starre, weil ich vergessen habe, was ich machen wollte.
Drei Minuten, seit denen er gegangen ist. Drei Minuten in denen ich mir wünschte, er wäre noch da.

Ich streiche mir eine blonde Strähne hinter mein Ohr. Ein Seufzen entflieht meinem Mund.

Wenn ich mich so angucke, sehe ich trotzig aus. Meine rosanen Lippen sind zu einem Schmollen zusammengezogen.

Shawn musste in sein Studio und einen Song aufnehmen. Ich kann es kaum erwarten, seine neue Musik zu hören. Wie sie wohl sein wird?

Das weiße T-Shirt hängt locker an mir herab, die Wollsocken sind halb aufgerollt, halb hinunter gerutscht, während ich auf den Zehenspitzen hin und her wippe.

Das erste Mal in meinem Leben bin ich alleine. Komplett alleine. Ein Grinsen schleicht sich auf meinen Mund.

Nach einer Weile gebe ich es auf und verlasse das Bad.

Aus den Teilen, die geliefert worden sind, hat mir Shawn noch geholfen mein Bett aufzubauen. Auch wenn ich mich gerne davon abhalten würde, muss ich daran denken, wie verdammt attraktiv er dabei aussah. Dummer Gedanke, ich weiß.

Ich habe das Gefühl, dass ich mich im letzten Jahr verändert habe. Er hat mich verändert. Seit ich ihn kenne, zähle ich weniger. Doch wenn er weg ist, fange ich wieder damit an. Er ist wie eine Sucht, die eine andere ersetzt.

Vier Schritte bis zu den Umzugskisten. Langsam fange ich an, auszupacken.

Doch bevor ich weitermache, lege ich eine Schallplatte auf. Nirvana. Smells Like Teen Spirit.

Nevermind ist und bleibt eine tolle Platte. Wobei mir In Utero ebenfalls sehr gut gefällt. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal in diesen kleinen Schallplattenladen gegangen bin. Schon damals war ich fasziniert von den runden Scheiben. Niemand hat damals noch Schallplatten gehört. Ich schon.

Lustiger Weise war es nicht Nevermind, das ich zuerst hörte, sondern 'In Utero'.

Man kann also sagen, dass meine Leidenschaft für Grunge auf Nirvana zurückzuführen ist. Auch auf den Schallplattenladen, der förmlich nach mir gerufen hat.

-
Kaum zu fassen, dass ich wirklich alles innerhalb des verbleibenden Tages eingeräumt bekommen habe.

Ich bekomme einen halben Herzinfarkt, als ich jemandem an dem Schloss herumfuhrwerken höre.

Mit meiner rechten Hand greife ich nach einem Kissen.

"Wer bist du und was machst du in meiner Wohnung!", schreie ich, als die Tür aufgeht.

Als eine belustigtes, männliches Lachen erklingt, werfe ich einen Blick hinter das Kissen.

"Versuchst du mich etwa zum Schlafen zu bringen? Nein halt! Wahrscheinlich willst du mich zu Tode kitzeln"

Meine Hand sinkt nieder.

"Wer bist du? Und wieso hast du einen Schlüssel zu meiner Wohnung?"

"Ich bin dein Mitbewohner und hätte ich gewusst, dass eine Tussi bei mir wohnt, hätte ich mir wohl was besseres angezogen. Und jetzt platz da", brummt er in einem Ton, der mir deutlich macht, dass er mich gerade verarscht.

"Nenn mich noch einmal Tussi und ich-"

"Du ziehst mir das Kissen über.
Ich habe ja so eine Angst"

Ich musterte ihn. Die fettigen Haare hängen ihm in sein unrasiertes Gesicht.

"Fick dich. Das hier ist mein Bereich", ich male mit meinem Finger eine virtuelle Linie durch die Wohnung.

"Nicht so assozial!", er hebt die Hände abwehrend hoch.

In seiner Hand hält er ein Sixpack.
Ich greife nach einer Bierglasche.

"Danke"

Dann knalle ich die Tür hinter mir zu und mache Nirvana an.

Ich schätze mit solchen Typen ist es so, wie mit Hunden. Man muss zeigen, wer der Dominante ist. Das bin eindeutig ich und er kann mich mal.

Ich lege mich auf mein weiches, großes Bett.

"Was soll den der Scheiß?", platzt der ungepflegte Typ in mein Zimmer herein. Meine Augen verdrehen sich schon fast automatisch.

"Sagte ich nicht, dass das mein Bereich ist? Also raus!", gebe ich desinteressiert von mir.

"Ich will pennen, also schalt die Musik aus"

Ich schüttele meinen Kopf.

"Wie heißt das Zauberwort?", frage ich stattdessen. Er seufzt.

"Ist das dein Ernst? Du hörst noch Musik auf einem verfickten Schallplattenspieler? In welchem Jahrhundert bist du denn steckengeblieben?"

"Raus hier", zische ich. Er bewegt sich gefährlich nahe an meinen Schallplattenspieler heran.

"Nope. Erst wenn das Ding da tot ist"

Meine linke Hand greift nach den gesammelten Werken Shakespeares.

"Bist du wirklich sicher, dass du das tun willst?"

Drohend blicke ich ihn an. Ein raues Lachen entflieht seiner Kehle. Die Lederjacke sieht aus, als wäre er schon sehr oft in eine Prügelei geraten, genauso wie sein Gesicht.

Ich atme aus.

"Du wirst es eh nicht machen!"

Er bewegt sich weiter auf die drehende Scheibe zu. Wehe er tut meinem Schatz weh. Zumal ich ihn von Shawn bekommen habe.

BOOM.

Ein Fluchen verlässt seinen unsymmetrischen Mund: "Scheiße man! Verfickte Scheiße, du Miststück! Wenn mein Fuß gebrochen ist, dann wirst du dafür aufkommen! Das zahle ich dir sowas von heim!"

Humpelnd stolpert er aus dem Zimmer, das das Größte in der Wohnung ist.

Eins, zwei und drei: Türknallen.

Irgendwie habe ich die Befürchtung, dass das lustig werden wird.

unexpected [s.m] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt