95. »Alles andere würde verdächtig wirken.«

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»Wenn wir von der Route abweichen, riskieren wir Misstrauen. Einfach geradeaus weiter!« Ty flog an der Spitze und war offensichtlich voll in seinem Element. Jetzt verstand ich auch, wieso wir direkt über den Berg mit dem Portal hinwegflogen und weiter in Richtung Nordosten. Der Wind blies uns wieder stark entgegen, was meinen immer noch leicht vorhandenen Muskelkater neu aufflammen ließ.

Alecya flog jetzt ganz in der Nähe, wäre es windstill gewesen, würde ich ihren Flügelschlag spüren können. Ich wusste nicht recht, wie ich ihr begegnen sollte. Einerseits war da der Zorn ihres Verrats, andererseits ihr fragliches Schicksal. Hätte es wirklich eine andere Möglichkeit gegeben? Sie war hart gegen Connor gewesen, als Maxime uns sein Tattoo offenbarte, obwohl sie es selbst trug.

Sagte das nichts darüber aus, wie sie zu den Darks stand? Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts. Die einzige Konstante in den letzten Tagen, nein Wochen, war Luke und auch er hatte sich verändert. Wie genau, konnte ich noch nicht sagen und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Und die Sache mit Jason war zu verrückt, um genauer darüber nachzudenken.

Es wurde Nachmittag, es wurde Abend. Mittlerweile waren die Bergkämme nicht mehr schneebedeckt und die Luft ließ erahnen, dass es tatsächlich Sommer war. Zwischen den Gipfeln herrschte nur eine Jahreszeit: Winter. Und den hatte ich jetzt gründlich satt. Mein Drachenpanzer war zwar wie ein multifunktionaler Anzug gegen jedes Wetter, aber Sonnenschein war mir dennoch deutlich lieber als Schnee.

So langsam begann ich mich zu fragen, wie wir die Nacht verbringen wollten. »Können wir überhaupt eine Pause machen?«, erkundigte ich mich matt. Tymian antwortete nicht sofort. »Das müssen wir sogar. Alles andere würde verdächtig wirken.« So kam es, dass wir wenig später unser Lager am Rand einer Kuhweide aufschlugen, die an den Bergwald grenzte.

Ein Feuer machten wir nicht, da wir keine Landstreicher oder sonstige zwielichtige Gestalten auf uns aufmerksam machen wollten. Nicht, dass wir uns nicht wehren konnten. Leider hatten wir keine Decken oder sonstige Dinge zum Übernachten im Freien dabei, sodass es ziemlich unbequem wurde. Schließlich fand ich mich zwischen Luke und Attica auf meiner Jacke wieder, die ich provisorisch auf dem unebenen Boden ausgebreitet hatte.

Luke sei Dank hatten wir wenigstens einen Rucksack; er hatte zur Sicherheit, da er nicht sicher war, wie schnell sie mich finden würden, meine Jacke und den Wanderrucksack mit den Vorräten dabei. Die Bogen und seine Sachen fristeten noch im Versteck der Allianz ihr Dasein und ich betete, dass wir alles bald heil wieder in den Händen halten würden.

Fürs Erste war ich einfach nur dankbar, ein Abendessen zu haben, auch wenn eine Konservendose voller eingelegter Ananasstückchen nicht gerade konventionell war. Immerhin griffen die anderen ordentlich zu, also war es nicht ganz so seltsam. Tymian erklärte sich freiwillig bereit, Wache zu halten. »Um zwei Uhr löse ich dich ab«, verkündete Attica. Ihr Blick duldete keinen Widerspruch.

Wieder fragte ich mich, was zwischen ihr und Ty, besonders aber Archer, vorgefallen war. Aus dem Wald drangen leises Blätterrascheln und das Knacken von Zweigen. Der laue Wind streichelte über mein Gesicht und zupfte sanft an einzelnen Haaren. Es war so friedlich, aber ich wusste es besser. Irgendwo da draußen beobachteten uns genau in diesem Moment die Darks.

Sehr wahrscheinlich war auch Eisauge mit von der Partie und wartete auf Rache. Ob er mir auch gern einen Schwertknauf überziehen würde? Oder lieber die andere Seite des Schwertes? Ich schauderte trotz der warmen Luft. Tys prüfenden Blick bemerkte ich erst, als er ihn bereits wieder abwandte. Der von Sternen besprenkelte Himmel betonte Tys Silhouette und ließ ihn wie einen Gott wirken.

Einen sehr gutaussehenden Gott. Ein Stoß in die Seite löste meine Augen von Ty und ich drehte mich zu Luke um. »Was ist jetzt eigentlich mit deiner Mom?« Ach ja. Der Grund für den Aufbruch schien mir schon so weit entfernt, als wäre es Wochen her. Mit knappen Worten schilderte ich die Geschichte, wobei mir Tymian immer wieder ins Wort fiel. Die drei hörten gespannt zu; aber auch Attica lauschte interessiert.

Sie kannte ja nur die halbe Geschichte. Als ich bei der Stelle mit Archers Sturz angelangt war, ballte sie ihre Hände zu Fäusten und löste diese erst wieder, als ich beim Teil ihrer Befreiung angekommen war. In der Dunkelheit konnte ich ihr Gesicht nur noch erahnen, obwohl ich gern gewusst hätte, was in ihr vorging. Schließlich gab es keine Worte mehr und eine tiefe Stille breitete sich zwischen uns aus.

»Es ist spät«, meinte Alecya schließlich leise und wie auf ein Kommando legten wir uns zum Schlafen. Bis auf Ty, der sitzen blieb, den Kopf aufmerksam gehoben. Sein Profil war das Letzte, was ich sah, ehe der Schlaf mich übermannte.

Dragons-Magische VerwandlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt