1. »Was ist das denn?!«

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Das Holzschild mit der Aufschrift MIKAS KAUFLADEN fest im Visier, spannte ich langsam die Sehne meines Eibenholzbogens und konzentrierte mich nur noch auf mein nicht sehr weit entferntes Ziel. Der laue Wind wirbelte mir ein paar kurze Strähnen meiner blond-braunen Haare in die Augen, wovon ich mich aber nicht stören ließ, als ich die Sehne aus meinen Fingern gleiten ließ und der angelegte Pfeil mit einem leisen Geräusch, das fast an ein Flüstern erinnerte, die Luft durchschnitt, bis er sich in das verwitterte Holz bohrte.

Ich sah hinüber zu meinem besten Freund Luke, mit dem ich schon lange trainierte, seit fünf Jahren, um genau zu sein. Damals waren wir elf gewesen, als er mir sein Hobby zeigte. Er selbst konnte schon ewig bogenschießen. Sein Vater hatte es ihm beigebracht, bevor er sich immer mehr dem Alkohol widmete und sein Sohn immer weiter in den Hintergrund rückte. Früher hatten Luke und ich all unsere Geheimnisse geteilt, aber jetzt redete er kaum noch über sich.

Die meisten Leute mochten ihn nicht besonders, weil er entweder nicht viel oder nur kurze Sätze sprach; gerne kommandierte er auch mal herum. Sein Verhalten stand ganz im Gegensatz zu seinem Äußeren: mit seinen verwuschelten, dunkelbraunen Haaren, den leuchtend grünbraunen Augen und seinen kantigen Gesichtszügen wirkte er total sympathisch, wie ich fand. Ein Lob kam ihm so gut wie nie über die Lippen, was mich manchmal ganz schön frustete.

Trotzdem waren wir seit dem Kindergarten unzertrennlich. Auch jetzt war seine einzige Reaktion, dass er anerkennend die Augenbrauen hochzog, ehe er ebenfalls schoss. Ich musste daran denken, was ich ihm gleich erzählen würde. Es klang selbst in meinen Ohren total lächerlich, aber ich wusste nicht, mit wem ich sonst darüber reden sollte. Meine Eltern würden durchdrehen, und darauf hatte ich keine Lust, obwohl es mir selbst Angst machte.

Meine Gedanken wanderten zurück zu dem Zeitpunkt, als alles begonnen hatte. Es hatte ganz harmlos angefangen, mit einem Jucken am Arm in der Mathestunde. Zuerst hielt ich es nur für einen dummen Ausschlag, weil man nichts anderes als gerötete Haut erkennen konnte. Später, als ich zu Hause die Stelle eincremen wollte, kam dann der Schock: auf der Haut hatten sich schlangenartige Schuppen gebildet! Meine erste Reaktion war ein erstickter Aufschrei gewesen.

Was war das? War es ansteckend? Ängstlich versuchte ich, das glatte Stück abzukratzen, aber meine Nägel glitten immer ab. Ich wollte das Training auf keinen Fall ausfallen lassen, da ich sowieso kaum Zeit dafür hatte, wenn meine Eltern daheim waren, also beschloss ich mit einem unguten Gefühl in der Magengegend, mich wie verabredet mit Luke zu treffen. Zum Arzt gehen konnte ich danach immer noch.

Vielleicht wusste Luke ja, was der Ausschlag - oder was auch immer das sonst war - zu bedeuten hatte. Die Sonne begrüßte mich an der frischen Luft und befreit machte ich mich auf den Weg zum verlassenen Industriegelände Welshnams, wo Luke und ich oft zu trainieren pflegten. Der Weg dorthin war von meinem Zuhause aus nicht weit, ich wohnte in dem heruntergekommeneren Viertel nahe der Stadtgrenze.

Mein Weg führte mich über einen halbherzig aufgestellten Stacheldrahtzaun, der das Industriegebiet absperrte, allerdings viele Lücken aufwies, zwischen den zerbröckelnden Mauern der alten Häuser hindurch. Je weiter ich kam, desto verlassener wurden die Straßen und desto trister die Umgebung, bis ich an einem kleinen, halb eingestürzten Lagerhaus anhielt.

Zwischen dem rissigen Asphalt vor meinen Füßen spross Unkraut hervor und überwucherte einen Großteil der alten Straße. Kein einziges der Gebäude hier verfügte noch über Fenster, alle waren eingeschlagen worden oder anderweitig zerstört.

Ich stieg über die Schutthaufen und schob eines der alten, verrosteten Metallregale zur Seite, wobei Staub aufwirbelte und mich zum Niesen brachte. Dahinter fand sich meine persönliche Schatzkammer, nicht sehr voll, aber von großem Wert für mich. Ein Bogen und ein Köcher, gefüllt mit Pfeilen, deren Spitzen blau markiert waren, lagen in einer Mulde der Wand, nur eingewickelt in einer alten Tüte, um etwas vor Feuchtigkeit zu schützen.

Von dort aus ging ich zu einem alten Parkplatz, auf dem der Treffpunkt lag, den Bogen im Gepäck. Wir hatten angefangen, uns mit ein paar einfachen, nicht weit entfernten Zielen aufzuwärmen, die schon viele Einschusskerben von vergangenen Tagen hatten.

Und jetzt stand ich hier vor Luke und wusste nicht, wo ich anfangen sollte. »Luke? Ich muss dir was erzählen«, begann ich und betrachtete den verblühten Löwenzahn zu meinen Füßen, als wäre er das Interessanteste, was ich je gesehen hatte. »Was denn?« Luke klang abgelenkt, kein Wunder, wo er gerade den Abstand zu seinem nächsten Ziel abschätzte. »Ich weiß nicht, was das ist, aber vielleicht du«, antwortete ich und schob nervös den Ärmel meines schwarzen Kapuzenpullis hoch.

Noch immer sah Luke nicht herüber, aber das war mir gerade egal geworden. Der Ausschlag, oder was auch immer es war, hatte sich weiter ausgebreitet. Mein halber Unterarm hatte diese seltsame Struktur angenommen, und nicht nur das: im Zentrum des Ganzen begann sich die Haut zu verfärben! Erstarrt vor Angst klebten meine Augen an der Stelle, während sich schleichend langsam die Panik in mir ausbreitete.

Das Herz schlug heftig in meiner Brust und ich war nicht weit davon entfernt, schreiend davonzurennen. Leider konnte man seinem eigenen Arm eher schlecht entkommen. Lukes erschrockene Worte rissen mich aus meiner Schreckstarre: »Was ist das denn?!«

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