83. »Sie sind unterwegs.«

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Die Hintertür flog mit Schwung auf und ließ mich erschrocken zusammenzucken. Tymian machte sich nicht die Mühe, sie wieder zu schließen und ignorierte den Wind, der durchs Wohnzimmer fuhr. Sein Blick galt einzig und allein Archer. Er sank auf die Couchlehne und fühlte dessen Puls. Auf seinem Gesicht sah ich keine Regung. »Du wirst nicht viel spüren können«, murmelte Speedy und wies auf den Stein, der auf dem Boden lag.

»Türkis.« Mit einer abrupten Bewegung nickte Tymian. »Sie sind unterwegs. Ich hoffe, sie konnten Linda mitnehmen...sie kann doch solchen Wind ab?«, sagte er tonlos. Speedy nickte mit in Falten gelegter Stirn. »Ich denke schon. Aber was kann Linda - « »Sie soll meinen Bruder begleiten«, schnitt Tymian ihm das Wort ab. Verständnis bildete sich in Speedys Augen, aber ich verstand nur Bahnhof.

Teamon kam her? Und wer war Linda? Immer noch schwer atmend öffnete Lucas die Augen und blickte prüfend zu Archer hinüber. »Linda?«, fragte ich einfach und hoffte, dass meine Fragen nicht noch mehr werden würden. Ich wusste einfach so wenig. Wieder war es Speedy, der mich aufklärte. »Sie kann Stillräume erschaffen. So ähnlich wie meine Schutzenergie, bloß wie eine Hülle und nicht gegen die gleiche Art von Angriff wie bei mir. Ich denke, so kann Teamon schneller fliegen, wenn sie den Sturm abschirmt.« Seine Stimme klang müde, was ich ihm nicht verübeln konnte.

Trotzdem wusste ich nicht, was der Plan bezwecken sollte. »Warum Teamon? Wie kann er Archer helfen?« »Denk doch mal nach. Er kann heilen, was sonst?«, mischte sich Lucas ein. Was sonst, genau. Es war ja vollkommen offensichtlich, dass ein achtzehnjähriger Junge mehr Fähigkeiten als ein ausgebildeter Arzt aufweisen konnte, ja, das war völlig normal! Nicht.

Der türkise Schimmer auf Archers Haut zog meinen Blick wie magisch an. Jetzt sollte man meinen, ich hätte schon alles gesehen, und dann kam so ein Zauberstein daher und belehrte mich doch glatt eines Besseren. Mein Blick huschte zu Tymian, der wie ein Häuflein Elend an Archers Seite saß, die Hand auf dessen Schulter. Erneut nagte die Schuld an mir und ich schlang die Arme um meinen Körper.

Der Wind, der durch die offene Hintertür hereinwehte, ließ mich frösteln. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass Archer etwas passiert. Ich wollte nie - « , begann ich kleinlaut, hörte aber auf zu reden, als Tymian die Hand abwehrend hob. Er sagte nichts, und das war wie ein weiterer Schlag für mich. In dieser Nacht auf der Wiese war ich es gewesen, die am Boden zerstört war, im wahrsten Sinne des Wortes. Nun war Tymian verletzt worden, zwar nicht körperlich, aber dennoch, und ich wollte mich revanchieren.

Ich wusste nur nicht, wie. »Sag mir, was ich tun kann«, bat ich mit schwacher Stimme. »Bitte.« Endlich sah Tymian mir direkt ins Gesicht. Ich las Wut und Schmerz, aber auch Sorge in seinen braunen Augen. »Wenn du unbedingt helfen willst, dann sieh, wie du meinen Bruder schneller hierherbekommst«, murmelte er, »aber das ist leider nicht möglich. Also warte einfach und tu alles, dass er verdammt nochmal am Leben bleibt!« Gegen Ende des Satzes wurde er immer lauter.

Stumm nickend senkte ich den Kopf. Seine Wut galt nicht direkt mir, aber es traf mich trotzdem, wie er redete. Zumal ich die Schuld an seinem Schmerz trug, was mir mit jeder Minute schwerer im Magen lag. Der Kloß in meiner Kehle wuchs ins Unerträgliche. Luke. Wo war er, wenn ich ihn brauchte? Ich wünschte so sehr, er wäre hier. Keine Sekunde länger hielt ich es aus. Mit geballten Fäusten stürmte ich aus dem Zimmer in den Garten.

Was war meine bescheuerte Gabe schon wert, wenn da drin jemand lag und ich nichts dagegen tun konnte, dass er dem Tod immer näher rückte? Der Wind zerzauste meine Haare, aber es war mir egal. Alles war egal. So machtlos zu sein, machte mich fertig. Mit einem kalten Gefühl lehnte ich mich an die Hauswand und schloss die Augen. Kalte Regentropfen wurden in mein Gesicht gepeitscht, bis meine Wangen vollkommen taub und meine Kleidung völlig durchnässt war.

Ich spürte den rauen Putz unter meinen Fingern und versuchte zu vergessen, was zuvor an dieser Stelle passiert war, doch die Bilder ließen sich nicht auslöschen. Ich konnte niemandem helfen, das hatte ich jetzt begriffen. Erst Tiana, dann Archer und Attica. Ich war lächerlich. In diesem Moment sehnte ich mich nach einem Resetbutton. Ein Resetbutton für das Leben, das seit meiner Verwandlung völlig aus den Fugen geraten war. Noch nie war mir das Wort warten so grausam vorgekommen. Machtlos, das war es, was ich war.

Dragons-Magische VerwandlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt