Erinnerungen des Waldes

301 25 3
                                    

P.o.V. Kiyan

Schon seit einer Ewigkeit hatte ich das Schloss nicht mehr verlassen und es fühlte sich überraschend angenehm an, diesen beengenden Mauern für eine kurze Weile zu entkommen. Ich wünschte nur, Mutter hätte in diesem Augenblick dabei sein können. Sie hätte sich sicherlich auch über solch einen kleinen Ausflug gefreut, wenn auch nur, um Vater aus dem Weg zu gehen. „Kiyan, warte!" riss mich Camilla's Stimme aus meinen Gedanken und ich brachte mein Pferd augenblicklich zum Stehen. Mein Blick wanderte aufmerksam umher, jedoch konnte ich nichts Außergewöhnliches entdecken-.

Daher blickte ich lediglich mit einem verwirrten Blick in ihre Richtung und konnte dabei mehr als deutlich ein Lächeln auf ihren Lippen erkennen. „Sieh mal, dort hinten!" Sie hob eine Hand und deutete in den Wald hinein, wo ich zuvor nichts Auffälliges hatte erkennen können. Doch diesmal sah ich genauer hin.. und sie hatte recht. Nicht weit von uns entfernt standen ein paar Rehe in dem halbhohen Gras. Genau wie wir, hatten auch sie ihre Blicke nach Camillas Ausruf direkt auf uns gerichtet und schienen sich keinen einzigen Zentimeter zu bewegen. Nach ein paar Sekunden jedoch, in denen wir diese Tiere geräuschlos betrachteten, setzen sie sich mit zögernden Schritten wieder in Bewegung und waren bereits kurz darauf wieder in den Tiefen des Waldes verschwunden.

„Als ich sie das letzte Mal zu Gesicht bekommen habe, muss ich noch ein Kind gewesen sein. Ich hätte nicht geglaubt, sie noch einmal sehen zu können." Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich und ihr gesamtes Erscheinungsbild schien förmlich zu strahlen. In den Monaten, die sie nun bereits bei uns im Schloss lebte, hatte ich sie schon lange nicht mehr auf diese Weise gesehen. Ihr schien dieser Ausflug gut zu tun und auch mich erfasste nun eine kleine Welle der Erleichterung bei der Tatsache, dass uns niemand in diesen unscheinbaren Gebüschen aufgelauert hatte. „Es sind wahrlich majestätische Tiere."

Ich wollte es nur ungerne zugeben, doch auch ich hatte diese Tiere bereits seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Das letzte Mal, musste einige Jahre zurückliegen. Seither hatte ich das Schloss nur in Ausnahmefällen verlassen und dabei blieb mir meist keine Möglichkeit, meine Umgebung so deutlich wahrzunehmen wie jetzt. „Du hast noch vor einer Weile in einem Dorf gelebt, Camilla. Gab es dort nicht alltäglich die Möglichkeit, nach ihnen Ausschau zu halten?" Ihre Stimmung trübte sich ein wenig, als ich sie an diese Zeit erinnerte und ich bereute meine Worte sofort. „Wir hatten keine Wälder in der unmittelbaren Umgebung. Sie kamen nur äußerst selten auf die Felder hinaus."

„Hat sich Jurian euch gelegentlich angeschlossen, wenn du mit deiner Mutter zum Markt gefahren bist? Ich habe ihn bei unseren Zusammentreffen nicht einmal in eurer Nähe gesehen." Wechselte ich, aufgrund dieser unglücklich gewählten Gesprächsrichtung, das Thema. Sie schüttelte daraufhin den Kopf. „Er musste sich um seine Geschwister kümmern. Es gab jeden Tag ein Menge an anfallender Arbeit, weshalb er uns nicht oft zum Markt begleiten konnte." Ich runzelte die Stirn, als ich von seinen Geschwistern erfuhr. „Dennoch hat er seine Familie verlassen um nach dir zu suchen. Er ist damit ein großes Risiko eingegangen."

„Hätten die Regelungen deines Vater nicht vorgeschrieben, dass er in den Kerker geworfen werden sollte, wäre er dort draußen womöglich erfroren und hätte mich niemals gefunden." Erklärte sie mir. So traurig dies auch klang, begann sie daraufhin zu schmunzeln. „Das ist nicht dein Verschulden, Kiyan. Du und dein Bruder habt es ihm ermöglicht, zu bleiben und dafür ist er ausgesprochen dankbar." „Er scheint mich allerdings nicht sonderlich zu mögen." Eröffnete ich ihr, diesen leisen plagenden Gedanken, der seit Monaten in meinem Kopf umherschwirrte. Wir hatten alles dafür getan, damit Vater ihn begnadigte und dennoch war er sowohl mir, als auch Phileas gegenüber äußerst misstrauisch.

„Mir erging es nicht anders. Du hast es uns nicht gerade leicht gemacht." Ihre Stimme klang nun ein wenig leiser, vorsichtiger. Womöglich wollte sie mir gegenüber nichts Falsches sagen, um mich nicht auf eine gewisse Art und Weise zu provozieren. Ich konnte gut nachvollziehen, warum sie so über mich dachten. Ich ließ ihre Worte unbeantwortet und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf unsere Umgebung. Unseren Weg hatte ich aus einem bestimmten Grund ausgewählt und es würde nicht mehr lange dauern, bis wir unser Ziel erreicht hatten.

„Kannst du dich an diese Umgebung erinnern?" fragte ich sie nach einigen Momenten der Stille, in denen wir den Wald hinter uns ließen und sich ein weites Feld vor uns eröffnete. Ich kannte die genaue Route nicht, die Camilla damals gegangen war, doch wenn ich mich nicht irrte, musste sie sich an diese Gegend erinnern können. Camilla blickte aufmerksam um uns herum, bis ihr Blick sich auf etwas am Horizont direkt vor uns festsetzte. „Die Stadt!" rief sie freudig aus und das Lächeln auf ihrem Gesicht kehrte zurück. „Wir befinden uns auf der anderen Seite, aus der du die Stadt normalerweise siehst. Ich bin überrascht, dass du sie dennoch erkennst."

Es war nicht gelogen. Sie musste die Stadt aus dieser Richtung womöglich noch nie gesehen haben und dennoch hatte sie bereits im ersten Moment erkannt, wo wir uns befanden. Als mein Bruder und ich sie damals im Wald gefunden hatten, war ihr Orientierungssinn äußerst schlecht ausgeprägt gewesen. Doch hier, in einer Umgebung, die sie bereits von klein auf kannte, musste sie womöglich jeden kleinsten Winkel kennen. „Der wehrte Kronprinz ist womöglich ein wenig aus der Übung. Es wird uns ein leichtes sein, ihn abzuhängen." Sie sprach diese Worte etwas leiser aus, ich konnte dennoch jedes einzelne davon genauestens verstehen.

Noch bevor ich in irgendeiner Form darauf reagieren konnte, trieb sie ihr Pferd weiter vorwärts und preschte an uns vorbei. Mit dem direkten Ziel, die Stadt, vor Augen. Ich konnte mir ein regelrecht amüsiertes Augenrollen nicht verkneifen und brachte mein Pferd dazu, sich ihrer Geschwindigkeit anzupassen. Sie hatte recht. Schon seit einer Weile hatte ich die Schnelligkeit der Pferde nicht mehr ausgenutzt und es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder daran gewöhnt hatte. Selbst mit Phileas war ich meist nur in einem ruhigen Schritt unterwegs gewesen, er bevorzugte eine deutlich entspanntere Gangart. Doch nun fegte ich gemeinsam mit Camilla über dieses hunderte Meter lange Feld und ich konnte zum ersten Mal seit Jahren wieder ein Gefühl von Freiheit in meinem Inneren wahrnehmen.

Für Außenstehende mussten wir wie zwei schwebende Schatten auf dem golden gefärbten Feld wirken und genauso fühlte es sich auch an. Die Hufe meines Pferdes schienen kaum den Boden zu berühren und es verstand genau, was ich von ihm erwartete. Camilla zu überholen, noch bevor wir die Stadt erreicht haben würden. Auch wenn ich mich ihr mit der Zeit langsam annäherte, gelang es mir bedauerlicherweise nicht, sie endgültig einzuholen. „Das muss ich Phileas mitteilen, sobald wir zurück sind!" rief sie aus, während sie ihr Pferd vor dem großen Stadttor schließlich durchparierte und sich mir mit einem Lachen zuwandte. „Er wird jeglichen Respekt mir gegenüber verlieren, das kannst du nicht machen, Camilla." Ich stimmte in ihr Lachen ein und brachte mein Pferd ebenfalls zum Stehen, als ich nur wenige Augenblicke nach ihr dort ankam.

„Was erhalte ich im Gegenzug für mein Schweigen?" fragte sie mich, sobald wir von den Pferden abgestiegen waren und diese an einem Balken in der Nähe des Toren festbanden. „Wenn du es wahrlich auf eine Verhandlung anlegen willst, können wir auch gerne wieder gehen." Konterte ich, doch das Schmunzeln auf meinen Lippen machte deutlich, dass ich dies nicht ernst meinte. Wir hatten schließlich nicht ohne Grund diesen Weg auf uns genommen. „In Ordnung. Ich werde mich hüten, ihm etwas darüber zu erzählen, verehrter Kronprinz." Sie deutete eine leichte Verbeugung an und ich griff nach ihrem Arm, um sie daran zu hindern. „Vater darf nicht erfahren, dass wir hier sind. Auch wenn er verreist ist, sollten wir kein Risiko eingehen."

Mit einem entschuldigen Ausdruck in ihrem Blick, nickte sie verstehend und beobachtete mich einen Moment dabei, wie ich einen schwarzen Mantel von dem Rücken des Pferdes zog und mir diesen überwarf. Ohne diesen Mantel, hatte ich den Markt noch kein einziges Mal betreten und daran würde sich vorerst auch nichts ändern. Camilla war hier sicherlich willkommen, doch als Sohn eines tyrannischen Königs hier entdeckt zu werden, würde uns eindeutig Probleme bereiten. Selbst Phileas würde hier offener empfangen werden, als es bei mir der Fall war. Diese Menschen hatten bisher nur meine grausame Seite kennengelernt.

„Du musst mir unbedingt den Ort zeigen, an dem ihr euren Stand errichtet hattet. Ich kann mich kaum noch daran erinnern." Ihr Gesicht hellte sich sofort wieder auf und sie setzte sich augenblicklich in Bewegung. Durch das große Stadttor hindurch, wo uns ein Getümmel aus unzähligen Menschen bereits erwartete. Ich zog mir die Kapuze des schwarzen Mantels über den Kopf und folgte Camilla durch diese Menschenmasse hindurch. Auch wenn mir bewusst war, dass ich in diesem Getümmel nur schwer erkannt werden konnte, mussten wir darauf achten, keine große Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Aus diesem Grund blieben meine Augen nicht nur bei Camilla, die lediglich wenige Schritte vor mir lief, sondern wanderten auch aufmerksam umher, um sofort davon zu erfahren, sollte uns jemand erkannt haben.

Die ZofeWhere stories live. Discover now