Bis zum Ende

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Noch bevor wir das Haus erreichten, in dem Jurian bereits seit Jahrzehnten mit seiner Familie wohnte, trat seine Mutter aus dem Haus, was uns automatisch vor ihr zum Stehen brachte. „Was soll das werden?" fragte sie, mit einer festen, klaren Stimme, wobei ich eine deutliche Anspannung ihres Kiefers wahrnehmen konnte. Sie war wohl nicht besonders erfreut darüber, mich hier zu sehen. Ich zog meinen Mantel lediglich ein wenig enger um mich, fast schon, um mich vor ihrem durchdringenden Blick zu schützen. „Sie wird bei uns bleiben, Mutter. Nur für ein paar Tage." Genau in dem Moment, in dem Jurian ihr antwortete, trat auch sein Vater aus dem Haus und wechselte einen leicht verwunderten Blick mit uns.

„Sie?" Helene schüttelte augenblicklich den Kopf. „Wie kommst du nur auf diese lächerliche Idee, Jurian?" Lächerlich war diese Idee ganz sicher nicht, doch es schmerzte, dass sie diese als solche bezeichnete. Als hätte er geahnt was ich dachte, griff er nach meiner Hand und drückte diese kurz sanft. „Sie hat ihre Mutter verloren, du kannst doch nicht wirklich glauben, dass ich sie auf der Straße sitzen lasse." Bekräftigte Juri seine Aussage, was mich nur ein wenig den Kopf senken ließ. Ich wollte keine Streitigkeiten zwischen ihnen provozieren.

Ohne auf eine weitere Antwort seiner Eltern zu warten, trat Juri bestimmt ihnen vorbei und zog mich dabei hinter sich her. Es war mir unangenehm, da ich wusste, dass sie mich nicht an diesem Ort haben wollte, doch ich wollte mich auch nur ungerne von Jurians bestimmtem Handeln abwenden. Er wollte schließlich nur das Beste für mich. Allerdings hatte er dabei nicht an seinen Vater gedacht, der genau in dem Moment nach meinem Handgelenk griff, als wir an ihm vorbeiliefen.

„Der Verlust von Katharina tut mir sehr leid aber wage es nicht auch nur einen Schritt in dieses Haus zu setzen." Seine Stimme klang tief, mit einem Unterton, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mehr noch, er ließ meinen Körper regelrecht zu einer Säule erstarren. „Vater, du kannst nicht.." Wollte Jurian ihn unterbrechen. Sein Vater warf ihm lediglich einen stummen Blick zu, der mehr ausdrückte, als tausend Worte es jemals hätten tun können. „Damals war es genau das selbe. Sie haben uns unsere Familie genommen, Jurian. Sie wird draußen bleiben."

Eine Antwort mit der ich unterbewusst bereits gerechnet hatte, mich nun aber dennoch wie ein Schlag traf. Denn da die Möglichkeit hier unterzukommen nun wirklich aussichtslos war, blieb mir keine andere Wahl, als die nächsten Tage im Stall zu übernachten, bis mir eine andere Lösung dafür einfallen würde. „Das könnt ihr nicht machen, sie wird dort erfrieren!" beschwerte sich Jurian, doch ich trat nur etwas betreten einen Schritt zurück, woraufhin sein Vater mein Handgelenk aus seinem Griff befreite.

„Juri, das ist in Ordnung. Ich werde nicht erfrieren" Versuchte ich meinen besten Freund etwas zu beruhigen und warf ihm ein leichtes Lächeln zu. Er würde misstrauisch bleiben, da war ich mir sicher. Dafür kannte ich ihn zu gut. Er konnte die Haltung seiner Eltern uns gegenüber noch nie wirklich nachvollziehen. Ich hatte jedoch beschlossen mich deren Entscheidung zu fügen, also war es in Ordnung, wenn ich nicht bei ihnen bleiben konnte. Sie wollten nur, dass ihre Familie gesund blieb und das konnte ich sehr gut verstehen.

Jurian wollte zu einem weiteren Satz ansetzen, aber wieder genügte nur ein einziger Blick seines Vater, um ihn verstummen zu lassen. Mir gefiel der Gedanken nicht sonderlich, die kalte Nacht im Stall zu verbringen, nurich hatte keine andere Wahl. Also nickte ich langsam und warf Jurian noch ein leichtes Lächeln zu, ehe ich mich auf dem Absatz umdrehte und ihren kleinen Garten vor dem Haus verließ. Sie riefen mir nicht nach oder meldeten sich auf sonst irgendeine Weise zu Wort. Auch Juri blieb still, was ich in diesem Moment sogar für die beste Entscheidung hielt.

Ich hörte nur noch, wie die Tür des Hauses geschlossen wurde, während ich mich immer weiter von dort entfernte, auf direktem Weg zum Stall in der Nähe meines ehemaligen Zuhauses. Die eintretende Nacht wurde ein wenig von dem nun vollends in Flammen stehenden Haus erhellt, doch keiner sah es für notwendig an, diese Flammen zu löschen. Nur wenige Minuten später öffnete ich das Tor des Stalls, ohne auch nur eine Sekunde zu dem brennenden Haus zu sehen. Ich würde es nicht aushalten, wenn ich es tun würde.

Nachdem ich den Stall betreten hatte, schloss ich das Tor direkt wieder, um die kalte Luft so gut es eben möglich war, vom Inneren fernzuhalten. Ich hörte ein kurzes Schnauben, welches aus der Richtung kam, in der sich Lenos Box befand. Für einen kurzen Moment hielt ich inne und ließ diesen Augenblick der Einsamkeit auf mich wirken. Denn nun war es real. Ich hatte mir diese Lüge selbst geglaubt, dass mein ganzes Leben lang die wichtigsten Menschen an meiner Seite sein würden. Doch das stimmte nicht. Auch wenn Jurian mir hatte helfen wollen, war mir klar, dass wir nicht jede Sekunde unseres restlichen Lebens zusammen verbringen würden.

Ich war allein. Das war die Schlussfolgerung, die ich in diesem Augenblick traf. Mit langsamen Schritten näherte ich mich Lenos Box und blickte über dessen Rand hinweg zu dem Hengst, der seinen Kopf lediglich kurz in meine Richtung drehte, diesen dann aber wieder unbeeindruckt in seinem Heu versinken ließ. Ein Tier müsste man sein. Ohne Verpflichtungen konnten sie sorglos leben. Selbst ein Pferd konnte laufen wohin es wollte, wenn es dazu die Möglichkeit bekam. Was also hinderte mich daran, frei zu sein?

Die Verpflichtungen, meiner Mutter zu helfen oder die Tiere zu versorgen, waren nun zu einem großen Teil ausradiert worden. Es gab nur noch die Tiere und diesen Stall. Alles andere war fort. Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich ernsthaft darüber nach, meinem jüngsten Traum nachzugehen und den Rest der Welt zu erkunden. So wie es Agnes getan hatte. Warum tat ich es nicht genauso? Ich könnte genau das tun, was ich als kleines Kind schon immer gewollt hatte. So weit laufen, wie meine Beine mich tragen konnten. Mit keinen Verpflichtungen, denen ich nachkommen musste. Lediglich einem freien Horizont vor meinen Augen.

Während ich diesen Gedanken wieder und wieder in meinem Kopf durchdachte, setzte ich mich auf den mittlerweile nicht mehr ganz so großen Berg aus Heu neben der Box und wickelte meinen Mantel so gut es ging wie eine Decke um mich. Viel würde es nicht bringen, die Nacht würde dennoch sehr kalt werden. Hier war es trotz allem noch etwas gemütlicher und vor allem wärmer als außerhalb dieser einfachen Scheune. Alles könnte so einfach sein, wenn ich ging und niemand würde betrübt darüber sein. Jedoch schlich sich wieder dieser eine Mensch in meine Gedanken, der mich auch bei meiner letztem Entscheidung davon abgehalten hatte, von hier zu verschwinden.

Ich würde Jurian zurücklassen müssen. Nach all den Jahren die wir nun zusammen Seite an Seite gestanden hatten, kannte ich ihn gut genug um zu wissen, dass er seine Familie nicht verlassen würde. Den Verlust eines weiteren Kindes würde er seinen Eltern nicht zumuten wollen. Nicht für die Träume, die er selbst ausleben wollte und auch nicht für mich, so gerne wir auch Zeit miteinander verbrachten. Unsere Wege würden sich trennen, genau wie ich es bereits vermutet hatte.

Wir beide waren nicht dazu bestimmt worden, unser Leben lang Seite an Seite zu stehen. Einige Jahre lang, hatten wir uns gegenseitig geholfen und durch die dunkelsten Zeiten unseres Lebens geführt. Doch die Trennung unserer Wege war bereits geschrieben worden, noch bevor wir überhaupt unseren ersten Schmerz zusammen erlebt hatten. Für uns existierte kein 'Für immer', so sehr ich dies auch anfangs gehofft hatte. Von Jahr zu Jahr hatten sich unsere Interessen weiterentwickelt. Ich wollte ihn nicht zurücklassen, dass war nie mein Wunsch gewesen.

Sein Leben würde hier stattfinden. Bei seiner Familie, die seine Unterstützung brauchte. Mein Weg führte von hier fort. Über die Berge, die sich außerhalb dieses Dorfes befanden und über all die Felder und Wälder, die dazwischen lagen. Die Erinnerungen, die ich mit diesem Dorf verband, würde ich nicht vergessen können aber es war wohl meine Bestimmung weiterzuziehen. Fort von hier, in die unbekannten Weiten dieses Landes, bis mir mein Gewissen nach all der Zeit sagen konnte, dass ich wieder Zuhause angekommen war.

Mit diesem Gedanken, der dafür sorgte, dass ein leichtes Lächeln auf meine Lippen trat und mich die Kälte für einen kurzen Moment vergessen ließ, schloss ich schließlich die Augen und wurde von dem leisen Knistern außerhalb dieser Scheune, hervorgerufen durch mein nun in Asche zerfallendes Zuhause, in den Schlaf begleitet. Es war ein beruhigender Gedanke, dass mir die gesamte Welt nun offen stand. Frei von allem, was mich an diesem Ort festzuhalten schien. Meine Mutter würde es verstehen. Auch sie war nun frei.

In dieser Nacht, in der ich meine sowohl erste als auch letzte Nacht in diesem Stall schlief, hatte ich unweigerlich den Beschluss getroffen, fortzugehen. So weit, bis mein Herz mir sagen würde, dass ich glücklich war.

Die ZofeWhere stories live. Discover now