Frei im Morgenrot

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Wohl endet Tod des Lebens Not,

doch schauert Leben vor dem Tod.

Das Lebens sieht die dunkle Hand,

den hellen Kelch nicht, den sie bot.

So schauert vor der Lieb' ein Herz,

alswie von Untergang bedroht.

Denn wo die Lieb' erwachet, stirbt

das Ich, der dunkele Despot.

Du laß ihn sterben in der Nacht,

und atme frei im Morgenrot.

„Wärst du so freundlich und würdest mir beim Hereintragen der Körbe helfen?" Die leise aber zugleich helle Stimme meiner Mutter, riss mich von dem dünnen Buch los, worin meine Gedanken verschwunden waren und welches schon regelrecht in sich selbst zu zerfallen schien. Wenn ich mich nicht täuschte, hatte ich diese zerfledderten Seiten schon deutlich öfter überflogen, als mir lieb war. Doch solche lyrischen Texte gefielen mir besonders gut. Ich legte das Buch zur Seite und erhob mich von meinem Bett, welches dabei ein knarzendes Geräusch von sich gab. Meine nackten Füße trugen mich durch die kleinen Räume unseres Hauses hindurch, bis zu der nur halbwegs fest verankerten Eingangstür. Ein Sturm vor einigen Wochen, hatte an diesem Ort nicht alles unbeschadet davonkommen lassen.

Ich trat durch die geöffnete Tür hinaus ins Freie, wo das Licht der untergehenden Sonne mich bereits begrüßte. Dieses schimmernde Gold, welches sich über die angrenzenden Felder und die wenigen anderen Wohnhäuser zog, die sich in dieser Gegend befanden. Mein Blick richtete sich auf den noch recht voll beladenen Wagen und ich gab ein leises Seufzen von mir. Meine Mutter musste dies gehört haben, denn sie trat mit einem versucht zuversichtlich wirkenden Lächeln und zwei gefüllten Körben in ihren Händen, neben diesem hervor. „Morgen werden sie uns den gesamten Wagen leerkaufen." Auch wenn sie diese Worte mit einem hoffnungsvollen Unterton von sich gab, wusste ich, dass sie dies nur sagte, damit ich mir keine weiteren Gedanken darüber machen würde.

Es stand nicht gut um uns, das war mir bereits seit einer ganzen Weile bewusst. Die Felder gaben uns genau die Menge, die wir selbst zum Überleben brauchten. Doch das reichte nicht. Uns fehlte das Geld, um alles andere hier aufrecht zu erhalten. Ich griff nach einem Korb, der gefüllt mit Karotten war und trat damit an dem Wagen vorbei, an die Vorderseite, wo Leno noch angespannt stand und mit leichten Schnauben wieder zur Ruhe kam. Der Schwarzwälder Hengst hatte mich bereits seit meinem ersten Lebensjahr begleitet und war, genau wie ich, seitdem ein paar Jahre älter geworden. Als kleine Belohnung für seine Arbeit steckte ich ihm eine der Möhren zu, die er nach einem erneuten kurzen Schnauben zwischen seinen Zähnen zermalmte.

„Wenn du ihm ständig irgendwas zusteckst, haben wir in ein paar Tagen keinen einzigen Krümel mehr." Ich wusste wovon sie sprach. Dennoch beachtete ich dies nicht weiter, sondern drehte mich lediglich wieder um und brachte den Korb in die kleine Kammer, neben unserem Haus. Auch hier war das Ausmaß der schlechten Ernte in den letzten Jahren deutlich zu sehen. Ich konnte mich noch an die Zeit in meiner Kindheit erinnern, als diese Kammer bis zum Anschlag gefüllt war und niemand von uns sich Sorgen darum machen musste, wie wir den Winter überstehen würden. Doch diese Zeiten waren schon lange vorbei.

Wir mussten unseren eigenen Bedarf reduzieren, damit wir noch genug von der Ernte übrig hatten, um diese auf dem Markt zu verkaufen. Leno brauchte sein Futter und auch wir brauchten gelegentlich neue Kleidung oder bestimmte Werkzeuge für unsere Arbeit. Ohne das Geld vom Wochenmarkt, wäre dies nicht möglich. In den nächsten Minuten half ich meiner Mutter dabei, die restlichen Körbe vom Wagen zu holen und zurück in die Kammer zu stellen, in der sie bis zur erneuten Fahrt am nächsten Morgen verbleiben würden. So verlief es jeden Tag. Meine Mutter fuhr zum Markt und kam erst am Abend von dort zurück. Derweil kümmerte ich mich um die Tiere und das Feld. Ein Alltag der uns nun schon seit einigen Jahren begleitete.

Meine Mutter brachte Leno wieder in den Stall zurück, der ein Stück entfernt von unserem Haus lag. Ich selbst hingegen, begann ein wenig Gemüse für das Abendessen zu schneiden. Auch wenn es für jeden anderen nur eine recht kleine Portion ergeben würde, reichte sie für meine Mutter und mich vollkommen aus. An diese geringe Menge hatten wir uns mittlerweile gewöhnt. „Hast du bereits nach den Hühnern gesehen?" hörte ich wieder die Stimme meiner Mutter in meinen Ohren, während sie neben mir den Raum betrat, der sowohl als Küche, als auch als Wohnzimmer diente. Eine konkrete Raumtrennung gab es hier, abgesehen von den Schlafzimmern, nicht.

„Nur zwei von ihnen waren so großzügig und haben uns Eier hinterlassen.." gab ich als Antwort von mir und drehte meinen Kopf dann für einen kurzen Augenblick in die Richtung meiner Mutter. Es erstaunte mich immer wieder, wie ähnlich wir uns sahen. Die selben blonden Haare und auch das Lächeln hatte ich von ihr. Nur die Augen hatte ich von meinem Vater. „Vielleicht ist es an der Zeit, sie ebenfalls mit auf den Markt zu nehmen. Wenn sie keine Eier legen, verschwenden sie nur unsere Ernte."

Ich schüttelte daraufhin leicht den Kopf und gab das mittlerweile geschnittene Gemüse in den Topf. „Tu das nicht, Mutter. Bisher sind wir doch auch recht gut ohne diese Eier ausgekommen. Wenn wir sie auf den Markt mitnehmen und an irgendeinen Schlachter abgeben würden, könnte ich mir das nicht verzeihen." Versuchte ich ihr verständlich zu erklären, warum ich dies für eine absolut grauenhafte Vorstellung hielt. „Du bist zu freundlich für diese Welt, Camilla. Es tut mir von Herzen leid, dass ich dir nicht mehr bieten kann, als dies hier."

Sie entschuldige sich oft dafür, dass wir mit solch einer Situation zu kämpfen hatten. Obwohl es nicht einmal ihr Verschulden war. „Das ist Irrsinn." Antwortete ich fast direkt darauf und drehte mich vollends zu ihr um. Sie wirkte traurig. Wie so oft, wenn wir über dieses Thema sprachen. „Ich brauche so etwas nicht, Mutter. Wir müssen kämpfen und das ist in Ordnung. Solange ich weiß, dass du an meiner Seite sein wirst." Ich warf ihr ein kurzes Lächeln zu, welches sie ein wenig zuversichtlicher erwiderte. Nach all den Geschehnissen, war ich froh, meiner Mutter beistehen zu können.

„Wie klingt das: Wir fahren morgen zusammen auf den Markt. Du und ich. Bei deinem zauberhaften Lächeln müssen uns diese sturen Leute einfach alles abkaufen." Amüsiert über diese Vorstellung schüttelte ich wieder leicht den Kopf. Schon seit Wochen war ich nicht mehr mit auf dem Markt gewesen. Es würde mir guttun, wieder aus dieser Einöde herauszukommen. Aus diesem Grund nickte ich schließlich doch mit dem Kopf. „Das klingt nach einer guten Idee." Dennoch war mir nicht klar, dass sich die Menschen, genau wie wir, in der vergangenen Zeit ziemlich verändert hatten.

Nachdem ich mich wieder der Gemüsesuppe zugewandt hatte und diese schließlich fertig war, füllte ich diese in zwei Schalen und stellte sie auf dem kleinen Tisch ab, nur wenige Meter von der Küche entfernt. „Vielleicht finde ich dort auch ein paar neue Gewürze." „Agnes bringt dir doch so gerne etwas von ihren Reisen mit. Du solltest sie einmal danach fragen, sobald du sie siehst." Erwiderte meine Mutter und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Die Geschichten zu hören, welche Agnes von ihren kurzen aber spannenden Reisen erzählte, machte mich immer ein wenig neidisch. Jede Reise war spannender als die letzte. Wie gerne würde ich sie einmal auf einer ihrer kleinen Reisen begleiten und genau wie sie, ein wundervolles Stück dieser Welt entdecken. Doch ich wusste, dass dies hier mein Zuhause war. Mein Zuhause, welches ich nicht verlassen konnte, ohne meine Mutter alleine zurückzulassen.

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt