Das zweite Gesicht

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Phileas wandte den Blick von mir ab und für einen Augenblick konnte ich einen Hauch von Trauer in seinen Augen erkennen, ehe er dies dadurch vor meinem Blickfeld verbarg. „War er hier? Hat er mit dir gesprochen?" fragte ich ihn, woraufhin er mir nur ein leichtes Kopfschütteln als Antwort gab. Dann schwieg er. Ein Schweigen, welches ich damit zu erklären versuchte, dass er nicht ansatzweise beschreiben konnte, wie diese Nacht für ihn gewesen sein musste. „Kein einziges Wort." Brachte er schließlich leise hervor. Seine Stimme hatte einen etwas kratzigen Unterton angenommen, als bemühte er sich, nicht in Tränen auszubrechen. Ich war ihm mit dieser Frage eindeutig zu nahe getreten und dies bereute ich sofort.

„Du solltest mir diese Wunde erklären, Camilla." Unterbrach er das Schweigen im nächsten Moment mit einer gefassteren Stimme und wandte sich wieder mir zu. Der leichte Schimmer in seinen Augen, der von aufsteigenden Tränen herrührte, war nicht zu übersehen. Ich sprach ihn jedoch nicht näher darauf an. Allerdings hatte ich auch nicht vor, mich vor Phileas über seinen Vater zu beschweren. Ihm nicht noch mehr Bestätigungen dafür zu geben, dass der König ein grauenvoller Mensch war. Daher schüttelte ich nur den Kopf. „Ich bin lediglich gestolpert und habe mir den Kopf angestoßen. Es geht mir gut." Antwortete ich ihm, doch Skepsis tauchte in seinem  Blick auf.

Ich war mir nicht sicher, ob er mir diese Aussage glauben würde. Nicht einmal ich selbst konnte mir diese Lüge abkaufen. Es war kein Todesurteil, welches der König damit ausgesprochen hatte. „Ich sollte dich nicht um einen Gefallen bitten, Camilla. Es steht mir nicht zu, dies über den Kopf meines Vater hinweg zu entscheiden. Dennoch.. würdet du einmal nach Kiyan sehen? Er hat sein Zimmer seit Stunden nicht verlassen und es ist unheimlich still, seit die Sonne aufgegangen ist. Ich denke allerdings nicht, dass er mich im Augenblick sehen möchte."

Phileas hatte Recht. Es war ein regelrecht unmöglicher Gefallen, um den er mich damit bat. Zumal mit jeder vergehenden Sekunde das Risiko weiter anstieg, dass der König zurückkehren und mich dadurch hier oben entdecken würde. Ich hatte die Trauer in seinem Blick gesehen. Förmlich gespürt, wie sehr es ihn belastete, seinen Bruder auf diese Weise zu erleben. Es zerriss ihn, ebenso wie mich diese Entscheidung zerriss. „Sollte Vater dich entdecken, übernehme ich die volle Verantwortung. Es spielt keine Rolle, ob er mich dafür verurteilen wird. Das hat er oft genug getan. Ich möchte nur sichergehen, dass mein Bruder nicht den Verstand verliert."

Diese Worte kamen mir bekannt vor. Auch beim König hatte ich bereits die Vorahnung, dass er nach dem Tod seiner Frau mit der Zeit durchdrehen würde. Es war daher wohl nachvollziehbar, dass Phileas dies ebenfalls bei seinem Bruder vermutete. Kiyan war seinem Vater bedauerlicherweise in vielen Punkten zu ähnlich und das bereitete seinem jüngeren Bruder Sorgen. Ich musste mir eingestehen, dass auch ich mir Gedanken um ihn machte. Genaueres über seine schlaflose Nacht hatte ich nicht erfahren. Es genügte bereits zu wissen, dass die Stille an diesem Morgen eine verständliche Unruhe in Phileas auslöste. „In Ordnung. Sollte es Problem geben, werde ich jedoch zurückkommen und dich zur Hilfe holen."

Der abwartende Ausdruck auf seinem Gesicht wandelte sich in Erleichterung und ich teilte dieses Gefühl. Phileas war bisher immer derjenige gewesen, der wusste, was er tat. Wenn er keinen Ausweg mehr kannte, würde ich mir ernsthafte Gedanken machen müssen. „Ich danke dir, Camilla. Von Herzen. Ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich selbst in der Lage dazu wäre." „Das weiß ich, Phileas und es ist mir eine Ehre, dir eine Hilfe zu sein." Ich begann langsam zu verstehen, dass dies wohl der Punkt war, für den Phileas bereits bei unseren ersten Begegnungen gesprochen hatte. Hierfür brauchte er meine Hilfe. Ich musste Kiyan in diesem Moment zur Seite stehen, da Phileas es selbst nicht konnte.

Zunehmend entschlossener erhob ich mich von dem Sessel und warf Phileas noch ein aufmunterndes Lächeln zu. „In den Tagen nach dem Tod meiner Mutter, habe ich mich oft an ihre letzten Worte erinnert. Ich bin mir sicher, dass Althea auch weiterhin an deiner Seite sein und gemeinsam mit dir über Kiyan wachen wird." Der Tod meiner Mutter hatte mich schwer getroffen. Jurian hatte durch seine Anwesenheit das Schlimmste verhindert und ich war ihm noch immer unendlich dankbar dafür. Abgesehen von dem Risiko welches ich damit einging, war es für mich selbstverständlich, die Prinzen mit ihrer Trauer nicht alleine zu lassen.

„Du hättest jederzeit von hier verschwinden können. Ich bin dankbar, dass du dich dafür entschieden hast, zu bleiben." Seine Stimme klang nun heller, ein wenig wacher als zuvor. Dies ließ auch mich nun erleichtert aufatmen. „Versuch noch ein wenig zu schlafen." Nach einem aufmunternden Lächeln in seine Richtung, wandte ich mich schließlich vom ihm ab und hatte den Raum bereits wenige Momente später verlassen. Meine Stimmung hatte sich durch dieses Gespräch ein wenig angehoben, jedoch erschienen mir erste Zweifel, ob es bei Kiyan ebenso einfach werden würde, ihm ein Lächeln zu entlocken. Nach dem, was Phileas mir über die vergangene Nacht berichtet hatte, war ich davon nur wenig überzeugt.

Es waren nicht viele Schritte, die ich im Gang zurücklegen musste, um das Schlafgemach von Kiyan zu erreichen. Im Schloss war es noch immer still und der König schien noch nicht zurückgekehrt zu sein. Ich klopfte auch dort leise, erhielt jedoch keine Antwort. Es war absehbar, dass er sich nicht zu Wort melden würde, denn laut Phileas kam von ihm seit Stunden keine Reaktion. Daher öffnete ich, ohne die Aufforderung dazu erhalten zu haben, langsam die Tür und betrat den stark abgedunkelten Raum. So dunkel, dass lediglich der dünne Lichtkegel, ausgehend von der Tür, den Raum ein wenig erhellte. Die brennende Kerze auf dem Schreibtisch, entdeckte ich erst einen Augenblick später.

Dass Kiyan sich wirklich in diesem Raum befand, nahm ich erst nicht wahr, denn ich konnte ihn in dieser Dunkelheit nicht sofort erkennen. Bis sich im Schatten etwas zu bewegen schien und mein Blick sich automatisch darauf richtete. „Verschwinde, Camilla. Vater wird dich auf den Scheiterhaufen werfen, sollte er dich hier entdecken." Kam es mit einem gedämpften Brummen aus diesem Teil der Dunkelheit. „Dieses Risiko gehe ich ein." Murmelte ich nur, ehe ich die Tür hinter mir leise ins Schloss fallen ließ. Er wollte sich distanzieren. Nicht nur von seinem Bruder, obwohl dieser ihn im Augenblick ebenso sehr brauchte. Es folgten keine weiteren Worte mehr von Kiyan. Stille legte sich wieder über den Raum, während ich noch darauf wartete, dass sich meine Augen an diese Dunkelheit gewöhnten.

Die Fenster waren vollkommen abgedunkelt. Kein Lichtstrahl von außen kam herein. Lediglich die Kerze auf dem Schreibtisch, machte es mir möglich, nach nur wenigen Augenblicken ein wenig besser sehen zu können. Kiyan saß auf einem der Sessel inmitten des Raumes. Soviel konnte ich aus dieser Entfernung erkennen. Alles um mich herum war jedoch noch immer in Dunkelheit getaucht. Aus diesem Grund näherte ich mich ihm langsam, bis ich bei den Sesseln ankam und dort stehen blieb. „Phileas hat angedeutet, dass du die gesamte Nacht wach gewesen bist. Ich bin nur hier um nach dir zu sehen."

„Es geht mir hervorragend, Camilla. Wahrlich so gut, wie es dir mit dieser Platzwunde ergeht. Vater bereitet dir Angst und das ist durchaus verständlich." Durch seine Worte fühlte ich mich plötzlich angegriffen und ich trat sogar ein kleines Stück zurück. Mir gefiel es nicht, dass er über diesen Moment zu sprechen begann. „Ich bitte dich also erneut höflich darum, zu gehen. Du solltest nicht hier sein." Es war nicht typisch für ihn, dass er auf solch höfliche Weise um etwas bat. Von Phileas kannte ich das, bei Kiyan hingegen wirkte dies seltsam paradox.

Ohne mein Handeln darauf abzuwarten, bewegte sich der dunkle Schatten erneut und er erhob sich von dem Sessel. Nun erkannte ich in dem dämmrigen Licht der Kerze auch, dass er etwas in den Händen hielt. Bei aufmerksamer Betrachtung, was bei dieser Entfernung nicht sehr einfach war, identifizierte ich dies als den Teddybären, den ich beim letzten Mal bereits auf seiner Kommode hatte sitzen sehen. Der Teddybär, der für Othilia gedacht gewesen war. Es war nicht schwer zu übersehen, dass etwas in ihm vorging. Eine Mischung aus Angst und Sorge stieg in mir auf. Wenn Kiyan seinem Vater so ähnlich war, musste ich bei der Wahl meiner Worte durchaus vorsichtig sein. Ich verwarf jedoch den Gedanken, ihn lieber in Ruhe trauern zu lassen.

Kiyan, noch immer ein bewegender Schatten in dieser Dunkelheit, der langsam ein wenig Gestalt annahm, legte den Teddybären an exakt der selben Stelle auf der Kommode ab, wo dieser zuvor gesessen haben musste. Er hüllte sich weiterhin in Schweigen und sah es wohl nicht als notwendig an, weiter ein Wort an mich zu richten. Während er daraufhin den Raum durchquerte und sich dem Schreibtisch mit der Kerze näherte, folgte ich ihm mit langsamen, bedachten Schritten. Vor dem Schreibtisch blieb er stehen. Ein kurzer Augenblick der Ruhe, der im nächsten Sekundenbruchteil dafür sorgte, dass mir regelrecht das Blut in den Adern gefror.

„Ich sagte, VERSCHWINDE!" In einer kurzen aber kraftvollen Bewegung, fegte er all die Dokumente vom Schreibtisch, die zuvor darauf gelegen hatten. Seine durch den Raum hallende Stimme, ließ mich kurzzeitig in Erwägung ziehen, meinem Fluchtinstinkt nachzugehen. Ich war jedoch auch auf eine absurde Weise ein wenig erleichtert, dass er die Kerze nicht ebenfalls heruntergeworfen hatte. Dadurch erkannte ich nun, wie sein unbedeckter Oberkörper im Licht der Kerze regelrecht zu beben schien. 

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt