Inmitten von Rosenbüschen

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Der Regen fiel unentwegt auf mich hinab. Allerdings störte es mich nicht. Keineswegs. Der Himmel über mir war in ein schummriges Grau getaucht und auch die Pflanzen, die sich um mich herum aus dem Boden reckten, hatten an diesem regnerisch grauen Tag ihre sonst so schillernden Farben verloren. Alles wirkte trist und vernebelt. Nach tagelangem Sonnenschein, fühlte sich dieser Regenschauer wie eine pure seelische Erholung an. Ich war nicht einmal eine Woche an diesem neuen Ort und merkte dennoch in den ruhigsten Momenten bereits, wie sehr sich diese Welt von meinem alten Zuhause unterschied. Mit meiner neuen Erkenntnis, tat es dies umso noch mehr.

Der mit Gras bedeckte, teils erdige Boden unter meinen Füßen, ließ mich nicht lange mit schnellen Schritten vorankommen. Es genügte eine winzige Stelle, in der die Erde bereits vollends durchnässt war, um mit meinen flachen Schuhen dort auszurutschen und das Gleichgewicht zu verlieren. Ich landete neben einem nun ebenfalls sehr trist wirkenden Rosenbusch, schaffte es allerdings noch, meinen Oberkörper mit meinen Unterarmen abzufangen, bevor auch mein Gesicht im Dreck landen konnte. Für einen kurzen Moment lag ich still da, versuchte zu realisieren, was passiert war und drehte mich schließlich langsam auf den Rücken.

Ich machte mir keine Sorgen um das Kleid, welches ich trug. All der Dreck konnte wieder herausgewaschen werden und ich schlimmsten Fall wäre es auch kein großer Aufwand, ein Neues zu nähen. Es spielte keine Rolle, ob ich in diesem Moment aussah, als wäre ich aus einem Erdloch gekrochen. Ich hatte endlich das Gefühl, wieder frei atmen zu können, obwohl die Regentropfen unaufhörlich weiter auf mich niederprasselten. Regungslos lag ich dort und ließ meinen Körper mit dieser frischen Luft durchfluten, die ich mir herbeigesehnt hatte.

Dort, mitten im blumigen, sonst so farbenfroh leuchtenden Garten, auf dem durchnässten, matschigen Grasboden zu liegen, erinnerte mich an einen Moment in meiner Kindheit, den ich bereits verdrängt hatte. Viele Male hatte ich mit Jurian in dem Blumenfeld außerhalb des Dorfes gespielt, sobald die Nacht hereingetroffen war. Wir spielten Fangen und waren dabei kreuz und quer durch all die bunten Blumen gerannt. Als uns schließlich die Müdigkeit überkam, hatten wir uns inmitten des Feldes zu Boden fallen lassen und unseren Blick dem Himmel zugewandt.

Mit all seinen funkelnden Sternen, die wir mit bloßem Auge erkennen konnten, schien er über uns zu wachen und hatte uns bewusst gemacht, dass nicht nur unser Dorf und die Stadt in unserer Welt existieren konnte. Nach all diesen Nächten war mein Wunsch entstanden, auch die anderen Orte auf dieser Welt zu entdecken. Nun lag ich hier, an genau solch einem neuen Ort auf dieser unfassbar großen Welt, mit dem Blick in Richtung wolkenverhangenen Himmel gerichtet und wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als wieder zurück in diesen Moment im Kindesalter zu gelangen, in dem sich alles richtig anzufühlen schien.

Es würde nie wieder so sein. Plötzlich bereute ich es zutiefst, mich vor meinem Verschwinden aus dem Dorf, nicht von Jurian verabschiedet zu haben. Er musste mich für ein herzloses Monster halten, dass ich ihn ohne Kommentar verließ. Zumal es eine Tatsache war, dass wir uns wohl nie wieder begegnen würden. Nicht, nachdem ich wusste, in welchem Haus ich mich befand. In den vergangenen Tagen hatte ich kaum Zeit gefunden, über ihn nachzudenken, geschweige denn, ihn zu vermissen. Während ich nun regungslos hier lag, kam der Wirbelsturm voller Gedanken und Erinnerungen langsam zur Ruhe. Jurian fehlte mir. Er, das gesamte Dorf in dem ich aufgewachsen war und die Erinnerungen die ich damit verband, fehlten mir so sehr, dass sich mein Herz augenblicklich zusammenzog.

Mein Wunsch fortzugehen war begründet gewesen. Nur was hatte mich dazu bewegt mit den beiden Brüdern mitzugehen und bei einer fremden Familie unterzukommen, die sich nun als Hochangesehenste und zugleich Gefürchtetste im ganzen Umkreis herausstellte? Diese Erkenntnis hatte mein bisheriges Wissen auf den Kopf gestellt und ließ eine Welle der Hilflosigkeit über mir zusammenbrechen. Sollte ich bleiben und versuchen mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich der Königsfamilie höchstpersönlich zu Diensten war? Wäre es mir gestattet zu gehen, sollte ich mit dieser plötzlichen Veränderung nicht zurechtkommen können?

Ich verlor gänzlich die Zeit aus den Augen, während ich in diesem strömenden Regen lag und mich meinen Gedanken hingab. Es mussten bereits einige Minuten vergangen sein, als ich plötzlich wieder in die Realität zurückfand. Es regnete noch immer und der Himmel zeigte weiterhin sein unerschütterliches Grau von seiner schaurigsten Seite. Selbst an diesem frühen Mittag, wirkte es dadurch wie spät am Abend. „Verzeih mir diese Frage aber was um Himmels Willen machst du hier?"

Die Stimme kam wie aus dem Nichts aus dem stetigen Geräusch des Regens hervor, was mir einen regelrechten Herzinfarkt einbrachte. Nach diesem Schreck setzte ich mich auf und blickte mich fragend um. Nur den Bruchteil einer Sekunde später, entdeckte ich eine mit einem schwarzen Umhang verhüllte Person, wenige Meter von mir entfernt. An der Stimme selbst konnte ich bereits feststellen, um wen es sich dabei handelte. Weshalb ich mich kurzerhand erhob und mit groben Handgriffen mein Kleid wieder zu richten versuchte. Mit mäßigem Erfolg.

Durch all den Dreck und mit Regen durchtränkten Stoff, musste ich wie ein zerzauster Pudel wirken, der nicht recht wusste, was hier gerade geschah. „Kiy.. eure Hoheit.." verbesserte ich mich sofort, was dafür sorgte, dass die unter dem Mantel verborgene Person langsam ein paar Schritte näher kam. „E-Es tut mir leid, ich war ein wenig abgelenkt und.." stolperten die Worte förmlich aus mir heraus, ehe ich abrupt verstummte, als Kiyan vor mir stehen blieb und ich in das schillernde Grau seiner Augen blickte.

„Du warst ein wenig abgelenkt?" fragte er nach, woraufhin ich keine Antwort gab. Ich senkte leidglich meinen Blick ein wenig, wodurch ich nicht mitbekam, wie Kiyan sich einen Moment in der Umgebung umblickte. „Du solltest wieder hineingehen, Camilla. Ein Wunder, dass du nicht bereits erfroren bist." Erst jetzt bemerkte ich, wie die Kälte sich einen Weg durch den nassen Stoff gesucht und mein Körper bereits zu zittern begonnen hatte. Die Sonne strahlte zurzeit noch genügend Wärme aus aber inmitten dieses Regens und den leichten Winden war es nur eine Frage der Zeit, bis ich noch stärker zu frieren beginnen würde. Ich hatte diese aufkommende Kälte vollkommen ausgeblendet.

Da ich nicht sofort auf diese Aufforderung reagierte, legte Kiyan eine Hand an meinen Rücken und schob mich somit in Richtung der Tür, durch die ich zuvor in den Garten gelangt war. Bei dieser Berührung spürte ich jedoch ein deutliches Unbehagen in meiner Magengegend. „Woher wusstest.." wollte ich meine Frage beginnen, noch bevor wir das Schloss wieder betreten hatten. Er unterbrach diese Frage sofort, indem er an eine Stelle über uns zeigte. „Auch hier existieren Fenster.. ich konnte durch Zufall mit ansehen, wie du hinausgelaufen bist." Erklärte er mir, was ich lediglich mit einem kurzen Nicken quittierte.

Dies musste bedeuten, dass ich weniger Zeit hier draußen mit meinen Gedanken beschäftigt war, als bisher angenommen. Die andere Möglichkeit war, dass er mich die gesamte Zeit über beobachtet hatte, bis er schließlich beschloss, persönlich nach mir zu sehen. Ersteres war mir die deutlich angenehmere Variante. Schweigend liefen wir den Gang von der Gartentür zurück bis zum Schlafsaal der hier beschäftigten Zofen. Erst dort entfernte er seine Hand von meinem Rücken und öffnete dahingegen die breite Tür einen Spalt weit. „Hat Phileas es dir erzählt?" fragte er mich, als ich bereits einen Schritt in das Zimmer hineintreten wollte.

Mit einem fragenden Blick sah ich zu ihm auf, konnte jedoch nur einen ernsten Ausdruck in seinem Gesicht erkennen. Die Kapuze seines Umhangs hatte er noch immer tief ins Gesicht gezogen, seine grauen Augen stachen dennoch ein wenig darunter hervor. „Hat er dir erzählt, wer wir sind?" fragte er mich erneut, diesmal ein wenig expliziter, wodurch ich auch verstand, was er meinte. Ich hatte ihn vor wenigen Augenblicken noch mit 'Hoheit' angesprochen. Da ich dies zuvor nicht getan hatte, musste er sich wohl fragen, woher ich darüber Bescheid wusste.

„Nein." Antwortete ich ihm und untermauerte dies mit einem leichten Kopfschütteln. Es entsprach der Wahrheit. Phileas hatte diese Tatsache mit keinem Wort erwähnt. Hatte er dies doch getan, war es demnach wie ein flüchtiger Gedanke wieder aus meinem Kopf verschwunden. Kiyan schwieg daraufhin und nickte nur noch in die Richtung der Tür, durch die ich im selben Moment verschwand und sie wieder hinter mir schloss. Ich fühlte mich ein wenig ruhiger als zuvor, nur dieser Prinz hatte mir ein wenig Angst gemacht, als er so plötzlich neben mir aufgetaucht war.

Dass er sich Sorgen gemacht und aus diesem Grund beschlossen hatte mich wieder hinein zu holen, war für mich nicht vorstellbar. So wie ich ihn bisher kennengelernt hatte, war dies nicht seine Art. Aus welchem Grund war er sonst hinausgekommen? Noch dazu bei diesem, womöglich seit Stunden andauernden Regenschauer? Sein Verhalten irritierte mich. Besonders, dass er dachte, dass ich dieses, eigentlich sofort ersichtliche Wissen über ihre wahre Identität, von Phileas erfahren haben könnte. Gab es noch mehr Dinge, von dieser Erkenntnis einmal abgesehen, über die ich nichts wusste? 

Die ZofeWhere stories live. Discover now