Das Erbe

570 28 3
                                    

Seine Reaktion darauf war ziemlich deutlich. Es war nicht schwer zu erkennen, wie sich sein Kiefer anspannte und er für einen Moment den Blick von mir abwandte. „Mein Bruder hat bereits Andeutungen gemacht, dass du es weißt.." Er schüttelte leicht den Kopf und richtete seinen Blick dann wieder direkt auf mich. Dieser wirkte ein wenig schuldbewusst, soweit ich das überhaupt beurteilen konnte. „Ihr habt es mir verschwiegen." Sie hatten es mir nicht ausdrücklich bestätigt, da allerdings keiner der beiden Brüder etwas entgegen dieses Titels sagten, war dies für mich bereits Antwort genug. „Es tut mir leid, Camilla. Du solltest dich nicht dazu gezwungen fühlen, uns hierher zu folgen, nur weil dir bewusst ist, wer wir wirklich sind. Ich kenne die Gerüchte, die über uns im Umlauf sind."

Seine Stimme war zum Ende hin ein wenig leiser geworden und ich gab mit einem langsamen Nicken zu verstehen, dass ich genau wusste, wovon er sprach. Ich konnte den Grund für das Schweigen nachvollziehen und dennoch enttäuschte es mich. Stille legte sich zwischen uns, während ich in Phileas Blick ablesen konnte, dass er versuchte die richtigen Worte zu finden, ehe er weitersprach. „Kiyan und ich sind.. nicht gänzlich einer Meinung, was diesen Titel betrifft. Im Gegensatz zu ihm, wäre es mir deutlich lieber, nicht auf diese Weise angesprochen zu werden. Von diesem Titel halte ich nichts.. das habe ich wohl von meiner Mutter."

Ein Schmunzeln erschien wieder auf seinen Lippen und ich konnte erleichtert feststellen, dass dies wohl der Grund gewesen war, weshalb er mich hergebeten hatte. Er wollte wohl lediglich sicherstellen, dass ich diesen Adelstitel in seiner Gegenwart nicht ganz so ernst nahm. Wenn ich nun darüber nachdachte, erschien mir dies auch deutlich angenehmer. Wir kamen gut miteinander zurecht und dieser Titel hätte uns nur voneinander distanziert. „Aus diesem Grund hat deine Mutter auch nichts gesagt, als ich ihr den Tee gebracht habe. Mir ist es erst danach bewusst geworden." Gab ich teils nachdenklich, als auch ein wenig amüsiert von mir. Die Stimmung zwischen uns, schien sich allmählich wieder zu entspannen. Auch der prüfende Blick in Phileas' Augen verschwand.

Er nickte bestätigend. „Sie hat mir schon von Klein auf gelehrt, dass dieser Titel nichts zu bedeuten hat. Wir sehen uns nicht als etwas Besseres, nur weil wir einem anderen Lebensstandard angehören." Ich nahm an, dass er dies nur auf ihn und seine Mutter bezog. „Was ist mit Kiyan und deinem Vater?" Das Wort 'König' zu verwenden, ließ ich dabei absichtlich bleiben. Da Phileas keinen Wert auf diese Titel zu legen schien, musste ich mich nicht um solche Ausdrücke bemühen. „Mein Bruder ist was das betrifft, ein wenig.. eigensinnig. Er kommt sehr nach unserem Vater. Das liegt wohl daran, dass sie sich sehr nahestehen."

Wenn man mit gewissen Menschen aufwuchs, übernahm man meist unbewusst auch dessen Sicht auf die Dinge in dieser Welt. So hatten sich auch zwischen den beiden Brüdern die Meinungen geteilt, da sie meiner Ansicht nach wohl jeweils ein anderes Elternteil bevorzugten. „Der Kö.. dein Vater.." korrigierte ich mich sofort „.. ist schon einige Tage vereist. Ich bin ihm bisher noch nicht begegnet. Ist dir bekannt, wann er zurückkommen wird?" fragte ich ihn, woraufhin er den Kopf schüttelte. „Nein. Das kann niemand so genau sagen. Meist dauern seine Reisen nur wenige Tage. Gelegentlich auch mehrere Wochen. Nicht einmal Mutter weiß, wie lange er fort sein wird."

Das verwunderte mich ein wenig. Warum wusste nicht einmal die eigene Familie, wie lange er fort sein würde? Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. Die Stille die sich somit zwischen uns legte, fühlte sich ein wenig unangenehm an. „Ich wollte dich nicht so lange von deiner Arbeit abhalten, Camilla. Du hast sicherlich noch eine Menge zu erledigen." Wechselte er abrupt das Thema und erhob sich von seinem Sessel. Ich tat es ihm gleich. Die nun erhaltenen Informationen würden mich wohl noch eine Weile beschäftigten. Zumal mir Kiyan dadurch noch deutlich unsympathischer wurde. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass man mir diese Pause verzeihen wird, Phileas." Antwortete ich ihm mit einem leichten Schmunzeln und trat schließlich mit ihm in die Richtung der Tür.

„Du hältst dich hoffentlich daran, bei deinem nächsten Ausflug einen Wachmann mitzunehmen. Sonst fühle ich mich leider dazu gezwungen, dich hier anketten zu lassen." Er gab dies amüsiert von sich, ich erkannte jedoch auch den ernsten Unterton in seiner Stimme. Dass ihm dies so wichtig war, musste einen besonderen Grund haben. 'Nur zu deiner Sicherheit' waren seine Worte gewesen. Ich war mir sicher, dass dies noch eine andere Bedeutung haben musste. „Wenn du darauf bestehst, könnte ich versuchen mich daran zu halten." Es war ein wenig seltsam, mich nun auf solch eine entspannte Art und Weise mit ihm unterhalten zu können.

Wir verabschiedeten uns nach Verlassen der Bibliothek und ich blickte ihm noch einen kurzen Moment hinterher, während sein Weg in einen der angrenzenden Gänge des Stockwerks führte. Erst als er aus meinem Blickfeld verschwand, setzte auch ich mich wieder in Bewegung und trat die breite Treppe in der Eingangshalle wieder hinunter. Hätte ich zu dieser Zeit gewusst, wie sehr ich mich durch dieses Gespräch in die Familiengeschehnisse hineinsteuerte, hätte ich auf der Stelle dieses Schloss verlassen, mit dem Gedanken, mich so weit wie möglich von diesen Menschen zu entfernen. Noch ahnte ich nichts davon und war dankbar dafür, trotz der Umstände hier aufgenommen worden zu sein.

Bisher kannte ich nicht alle Räume, noch weniger die, die sich direkt vor meinen Augen befanden und ich ohne mein Wissen wohl niemals würde entdecken können. Es machte diesen Ort zugleich mysteriös als auch heimisch. Schritt um Schritt lief ich die Gänge weiter entlang, die ich bereits nach meiner Ankunft vor einigen Tagen hatte entlanggehen müssen.

Mit jedem weiteren Tag, den ich an diesem Ort verbrachte, dachte ich weniger darüber nach, was ich hatte zurücklassen müssen, als ich beschloss, mein Heimatdort zu verlassen. Meine täglichen Aufgaben beanspruchten einen großen Teil meiner Zeit, weshalb ich selbst in den kurzen Momenten, in denen ich allein sein konnte, nur selten an das Dorf und meine Vergangenheit zurückdachte. Ich widmete meine Gedanken lieber den bevorstehenden Ereignissen und den Personen, die sich nun um mich herum befanden.

Die drei Zofen, die mich am ersten Tag mehr als herzlich bei sich aufgenommen hatten, wurden bereits innerhalb weniger Tage meines Aufenthalts zu guten Freundinnen. Wir verstanden uns gut. Lachten viel, wenn wir die Wäsche zusammen aufhängten oder den Speisesaal gemeinsam dekorieren konnten. Ich gewöhnte mich langsam daran, in diesem seltsam großen Gebäude zu leben und trotz der beiden Brüder, die sich so sehr voneinander zu unterscheiden schienen wie Feuer und Wasser, war ich glücklich über die Wendung, die mein Leben genommen hatte, als sie mich im Wald entdeckt und somit gerettet hatten.

Hinter diesen breiten Mauern, geschützt von Wachen, die nur selten in mein Blickfeld traten und scheinbar nicht gesehen werden wollten, fühlte ich mich seit Verlassen des Dorfes wieder ein wenig sicher. Auf eine sonderliche Art und Weise sogar zuhause. Es musste daran liegen, dass bisher alle Menschen die ich in diesem Schloss kennengelernt hatte, mir gegenüber wohlgesonnen waren. Von Kiyan einmal abgesehen. Selbst die Königin schien freundlicher zu sein, als ich es anfangs erwartet hatte. Ich sah sie nicht oft, nur gelegentlich, wenn ich ihr anstelle von Amalia den Tee ans Bett brachte. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie krank war. Doch weder Amalia, die sich oft in ihrer Gegenwart aufhielt, noch Layana oder Thekla wussten, aus welchem Grund es ihr zunehmend schlechter ging.

Dass ich den König bisher nicht kennenlernen musste, beurteilte ich sogar als recht angenehm. Ich kannte die Gerüchte, die in der Stadt und auch in meinem Dorf über ihn erzählten wurden. Selbst wenn diese, bezüglich der Brüder und der Königin nicht vollkommen stimmten, war ich ihm gegenüber doch ein wenig skeptisch. Während unserer freien Zeit sprach ich oft mit den anderen Zofen und Gehilfen im Schloss. Nicht ein einziges Mal fielen in diesen Gesprächen Worte über den König. Es wirkte fast so, als würde absichtlich niemand ein Wort über ihn verlieren wollen.

Es waren Fragen, die sich in meinen Gedanken sammelten, bei denen ich jedoch hoffte, dass ich mir schon bald selbst deren Antworten herbeidenken können würde. Aus diesem Grund blieb ich geduldig. Geduld war etwas, was mir meine Mutter bereits von Klein auf gelehrt hatte. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich mit jungen Jahren alle paar Stunden nach den Pflanzen auf dem Feld gesehen und es mich zunehmend gestört hatte, dass es bei jedem Mal noch immer nicht Zeit für die Ernte war. Meine Mutter sagte damals zu mir 'Jedes Werden in der Natur, im Menschen, in der Liebe muss abwarten, geduldig sein, bis seine Zeit zum Blühen kommt' und bei dem Gedanken an diese friedliche Erinnerung aus meiner Vergangenheit, begann ich leicht zu lächeln.

Sie hatte mich Vieles gelehrt und ohne dass ich es wahrgenommen hatte, wurden einige dieser Lehren aus meiner Vergangenheit, zu einem Teil meiner Persönlichkeit. Meine Eltern hatten mir diese Lehren hinterlassen. Das einzige Erbe, was mir nach der Zerstörung unseres Hauses von meiner Familie geblieben war.

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt