20. Kapitel

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Aldrins Sicht:

Ich spürte den feinen Stoff in meinen Händen und konnte mir schon bildlich vorstellen, was ich gleich sehen würde, doch dennoch zögerte ich und sah mich noch einmal in dem kleinen, runden Raum mit seiner hohen Decke um.

Überall an den Wänden standen tiefbraune Holzregale mit schier tausenden von Schubladen, dessen Metallknäufe in dem schwachen Licht glitzerten, die bis unter die Decke weit über mir reichten. Den Boden zierte ein alter Teppich, der in dunklen Rot- und Brauntönen gehalten war und ein paar einzelne Zettel, die einst runtergefallen sein mussten und die seitdem niemand aufgehoben hatte.

Mitten auf dem Teppich, auf drei massiven hölzernen, hübsch geschnitzten Beinen stand jedoch das Objekt, das diesem Raum überhaupt seinen Namen gegeben hatte und mit Abstand am wichtigsten war: der Globus.

Auch wenn er im Moment noch mit dem feinen Tuch aus Seide bedeckt war, welches ich gerade in meinen Händen hielt, war er eindrucksvoll und strahle eine Stärke aus, die einem das Gefühl gab nicht einmal ansatzweise zu verstehen wie Mächtig er wirklich war.

Doch wenn man ihn bereits einmal gesehen hatte, wusste man, dass es nicht nur seine Ausstrahlung und die Größe war, denn er war bestimmt eineinhalb mal so groß wie ich, die beeindruckte.

Noch immer stand ich ganz still da und überlegte. Ich wusste, dass meine Entscheidung richtig war, weil ich Marleene verstehen musste, um ihr helfen zu können und das konnte ich nur, wenn ich sie wenigstens ein bisschen kannte, aber trotzdem fühlte es sich so unfassbar falsch an.

Hatte ich jedoch nicht noch vorhin zu Carla gesagt, dass ich das tun musste und somit jetzt nicht zögern sollte? Denn das musste ich wirklich.

Ohne mir wirklich im klaren zu sein was ich gerade tat, zog ich vorsichtig an dem weichen Stoff und ging einen Schritt zurück, sodass er langsam von dem runden Körper rutschte und auf den Boden glitt.

Auch mein Ende ließ ich auf den kalten Stein fallen, bevor ich wieder nach vorne trat.

Die Länder die auf der Kugel eingezeichnet waren, hoben sich von ihr empor, während die Meere in den unterschiedlichsten Blautönen ganz präzise die einzelnen Strömungsrichtungen wiedergaben.

Aber das war es gar nicht, was mich am meisten beeindruckte. Viel mehr war es der schwere Holzrahmen in dem der Globus zu schweben schien und auch wenn ich ihn bereits gekannt hatte, musste ich ihn erst ein paar Sekunden bewundern, bevor ich auch den letzten Abstand zwischen uns überwinden konnte.

Langsam schritt ich einmal um ihn herum und blieb an der Stelle stehen, an der seine Karte mit einem blauen Fleck versehen war.

Aron hatte mir vor zwei Jahren erklären müssen, was er bedeutete, doch nun war es mir vollkommen verständlich. Er wies die Stelle auf, an der Sich Almelis befand. Die Stelle, die auf keiner anderen Karte der Welt markiert war, und an der sich eigentlich nur ein großes Stück Wald befinden sollte.

So nahmen die anderen jedenfalls diesen Ort war, wenn sie ihn besuchten. Sie bemerkten unsere Stadt gar nicht, konnten sie weder sehen noch betreten, denn für sie existierte sie ja schlichtweg gar nicht.

Auch wenn ich mit meinen 1,80 Metern nicht gerade klein war, musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen, um die Stadt direkt neben Almelis besser sehen zu können. Die Stadt, in der Marleene wohnte und nach der ich jetzt meine Arme ausstreckte. Nur um sie wenig später mit meinem Zeigefinger zu berühren und dabei leise „Marleene Moore" zu flüstern.

Zuerst passierte gar nichts und fast schon enttäuscht ließ ich meine Hände sinken. Vielleicht hatte ich etwas falsch gemacht? Schließlich war es schon länger her, dass ich Aaron dabei beobachtet hatte.

Gerade als ich meinen Arm erneut anheben wollte, ging ein kleiner Ruck durch die große Kugel und sie begann sich langsam zu drehen.

Während sie sich immer weiter beschleunigte, trat ich eilig zwei Schritte zurück und beobachtete mit einem kleinem Lächeln wie die Länder auf dem Globus wegen der Geschwindigkeit vor meinen Augen verschwammen und auch die Regale an den Wänden des runden Raumes sich immer wieder zu verändern schienen.

Ein leises Quietschen riss mich von der nun nur noch blau-grünen Kugel los und ich drehte mich nach hinten.

Weit über mir, in einem der dicht an dicht stehenden Regale, schob sich behutsam eine kleine Schublade hervor, die anders als die meisten jedoch nicht mehr schön glänzte, sondern bereits an vielen Ecken angeschlagen war. Ihr Lack blätterte überall ab und die schönen Verzierungen, die auch sie einst gehabt haben musste, waren verblasst. Genauso verschwunden, wie ihr silberner Griff.

Etwas klapperte hinter mir, doch ich erschreckte mich nicht, denn ich hatte schon geahnt, dass die massive Holzleiter genauso wie damals selbstständig bis zu der kleinen, hoch in der Luft schwebenden Schublade rollen würde.

Ich folgte ihr und wartete, bis sie ganz still stand, bevor ich ihr Geländer berührte. So hatte mein Großvater es mir damals erklärt.

Vorsichtig setzte ich meinen einen Fuß auf die erste hölzerne Stufe und stieg danach immer weiter nach oben, nur den Boden der Schublade im Visier.

Viel zu schnell stand ich ganz an ihrer Spitze, das kleine Kästchen in meiner Reichweite, doch traute mich nicht hineinzublicken. Danach wäre es endgültig vorbei, meine Chance doch noch das zu tun, was ihr bestimmt tausend Mal lieber wäre. Einfach auf die Antworten zu verzichten, die ich jedoch brauchen würde, wenn ich die Chance haben wollte, hinter ihre meterhohen und mit Stacheldraht umzäunten Mauern zu blicken.

Das war auch der Grund, warum ich meine Hand schließlich doch noch ausstreckte und in die hölzerne Schublade griff nur um wenig später eine Papierrolle zu erfassen.

Ich hatte es getan, ich hatte es wirklich gemacht, doch vor allem hatte ich es auch noch geschafft.

Aber bevor ich meine Finger endgültig um das Papier legen konnte, stellte ich mit einem unguten Gefühl fest, wie groß die Rolle überhaupt war. Der Papierbogen, auf der alles geschrieben stand, was sie jemals an schlimmen Dingen erlebt hatte und gleichzeitig die Schriftrolle, die eigentlich viel zu schwer für ihr junges Alter war.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now