43. Kapitel

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Aldrins Sicht:

Ich war hier schon oft gewesen, besonders als ich noch jünger gewesen war. Für mich war es einfach ein besonderer Ort gewesen, ähnlich wie es die Klippe für Marleene sein musste.

In letzter Zeit hatte ich es zwar kaum noch geschafft, aber jetzt wieder hier zu sein hatte etwas beruhigendes. Fast so, als würde man nach Hause kommen.

Bis jetzt war ich hier mit niemand anderem gewesen, nicht einmal mit Carla und das bedeutete schon etwas, aber trotzdem hatte ich keine Sekunde gezögert, als ich Marleene heute in ihrem Zimmer gefunden hatte.

Zum einen hatte ich ihr meinen geheimen Platz sowieso zeigen wollen, immerhin kannte ich auch ihre Klippe und es fühlte sich einfach richtig an, doch zum anderen hoffte ich, dass ihr der silbrig schimmernde, kleine See vielleicht genauso helfen könnte, wie er es bei mir vor ein paar Jahren getan hatte.

Ich blickte herunter auf Marleene, die noch immer in meinen Armen ruhte und gebannt auf das Wasser sah, das silbrig leuchtete und ihr tatsächlich die Sprache verschlagen zu haben schien.

„Wo... wo sind wir hier?", stammelte sie, als sie es endlich schaffte sich von dem ihr bietenden Anblick zu lösen und mit ihren grünen Augen, die unendliche Tiefen zu verbergen schienen neugierig in mein Gesicht blickte.

„An meiner Klippe", erwiderte ich bloß, bevor ich sie behutsam absetzte und sie vorsichtig einen Schritt nach vorne trat.

„Das hier ist der See der Prophezeiungen...", begann ich, als sie sich niederkniete und langsam über die spiegelglatte Oberfläche nach vorne lehnte.

„Ihr bewahrt unsere Prophezeiungen in einem See auf?", murmelte sie, während sie versuchte durch die schimmernde Flüssigkeit auf den Grund zu blicken.

„Nicht ganz"

Meine Stimme musste so eindringlich gewesen sein, dass sie ihre Aufmerksamkeit tatsächlich für ein paar Sekunden von dem See löste und zu mir blickte.

„Die eigentlichen Prophezeiungen bewahren wir in einem riesigem Keller unter unserem Schloss auf."

Gebannt nickte Marleene und ihre Aufmerksamkeit ließ mich Lächeln.

„Wir sind die Wächter der Prophezeiungen aller Menschen und beschützen diese solange sie Leben, aber...", begann ich und konnte sehen wie Marleenes Gesichtszüge sich mit einem mal anspannten, auch wenn sie es vor mir zu verbergen versuchte, denn sie schien bereits zu wissen was nun folgen würde.

„Aber nach ihrem Tod liegt es nicht mehr in unserer Hand ihre Prophezeiungen zu beschützen, sie brauchen diesen Schutz einfach nicht mehr. Manche Legenden besagen sogar, dass die Verstorbenen nur Ruhe finden können, wenn wir ihre Prophezeiungen mit ihnen gehen lassen..."

„Also sind alles was ich hier sehe die Überreste der Prophezeiungen von Toten?"

Schon bevor ich bestätigend nickte, rückte sie hastig einen Schritt zurück.

„Du brauchst keine Angst zu haben, du kannst sie nicht mehr verletzen."

„Okay", noch immer schien sie nicht ganz überzeugt, aber wandte sich wieder der silbrigen Flüssigkeit zu, die in ganz kleinen Wellen an dem gegenüberliegendem, flachen Ufer brandete.

Ich wusste woran, oder besser gesagt an wen sie gerade denken musst, doch genau das war auch der Grund gewesen, warum ich sie hierher gebracht hatte.

Vielleicht war es schmerzhaft, aber ich hatte früher immer das Gefühl gehabt und hatte es auch jetzt noch, meinen Eltern hier nah sein zu können und das, das war wunderschön.

Andächtig betrachtete Marleene den stillen See und schien ganz in Gedanken versunken bis sie sich plötzlich zu mir umdrehte.

„Warum wolltest du mir das hier zeigen, Aldrin?", ihre Frage war ganz ruhig, ganz gewöhnlich, aber in ihren Augen konnte ich den Sturm der Gefühle erkennen, den sie gerade durchlebte.

Sie schien genauso gut zu wissen wie ich, das hinter diesem Besuch am See mehr steckte als die Tatsache das ich ihn ihr unbedingt zeigen wollte. Und sie hatte recht.

„Weißt du, mir hat dieser Ort damals sehr geholfen..."

Bevor ich weiterreden konnte zog Marleene ihre rechte Augenbraue hoch. Eine Geste die sie zweifelsohne nicht machte weil sie meinen Worten keinen Glauben schenkte, sondern weil sie schon wieder dabei war sich vor dem zu schützen das sie gleich unweigerlich von mir hören würde.

Weil sie dabei war sich eilig wieder eine Mauer aufzubauen, oder wenigstens ein zerbrechliches Stückchen von ihr. Um das was ich gleich sagen würde nicht hören, nicht verstehen zu müssen und um nicht zu der Erkenntnis kommen zu können, das ich recht hatte.

Trotzdem sprach ich weiter: „Weißt du, früher hatte ich das Gefühl nie die Chance gehabt zu haben mich von meinen Eltern verabschieden zu können, ihnen alles sagen zu können was ich ihn noch hatte sagen wollen und glaub mir das war das allerschlimmste...", für einen Moment kamen all die Bilder wieder hoch, von meinen Eltern, von ihnen mit mir, von ihrem verschwinden das ich mir als Kind auf hundert verschiedene Weisen ausgemalt hatte. Doch anders als früher schaffte ich es mittlerweile sie wieder zu verdrängen, zumindest für diesen Moment.

„Und hier, hier habe ich es geschafft, hier hatte ich das Gefühl mich von ihnen verabschieden zu können und glaub mir, danach geht es einem so viel besser."

Marleene wandte sich wieder zu mir und erhob sich langsam bevor sie auf mich zutrat und ich die Verzweiflung in ihrem Blick erkannte, die sie eigentlich verzweifelt vor mir zu verbergen versuchte.

„Das heißt nicht, das du dich jetzt hier sofort verabschieden musst, oder sollst... ich wollte dir nur zeigen wie viel leichter es danach sein kann."

Sie sah mich nicht an, schien direkt durch mich hindurch zu blicken und ich wusste, dass sie all das was ich ihr gerade erzählte gar nicht hören wollte, doch trotzdem sprach ich weiter: „Ein Abschied heißt nicht, danach nicht mehr an sie denken zu können, es bedeutet lediglich sie so weit loszulassen, dass sie gehen können, denn das müssen sie. Sie gehören nicht mehr länger nach hier und ich glaube das weißt du genauso gut wie ich... denkst du nicht auch, dass sie es verdient haben losgelassen zu werden um gehen zu können?"

Ohne etwas zu erwidern ging sie um mich herum, musterte mich nicht einmal und während ich mich zu ihr umdrehte und nur noch sah wie sie zwischen den Bäumen und Büschen verschwand und mich hier alleine ließ, konnte ich nur an eines denken:

Ich konnte sie nur allzu gut verstehen.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now