5. Kapitel

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Marleenes Sicht:

Noch immer nahm ich die Welt um mich herum gar nicht richtig wahr, doch das musste ich auch nicht. Zum einen begegnete man um diese Uhrzeit sowieso keinem mehr auf den dunklen Straßen unserer kleinen Stadt und zum anderen hätte ich meinem Weg auch blind finden können, so gut kannte ich ihn inzwischen.

Am Ende der schmalen Straße die schon seit ein paar hundert Metern nicht mehr asphaltiert war und an der nur weit hinter mir vereinzelt Häuser standen bog ich nach rechts auf den unebenen Pfad zwischen all den Bäumen und Sträuchern ab, der mit der Zeit allein durch meine Benutzung entstanden sein musste.

Ich war mir ziemlich sicher, dass keiner diesen Ort kannte, nicht einmal meiner Mom, meinen beiden kleinen Geschwistern oder Fabi hatte ich ihn gezeigt, doch das fand ich auch gut so. Keiner sollte jemals von ihm erfahren und ich würde fast alles dafür tun, dass das auch so blieb.

Der Weg wurde breiter und endete auf dem großen Steinvorsprung. Wie immer stieg ich ab und lehnte mein Fahrrad an den Baum links neben mir, bevor ich weiter nach vorne trat.

Das hier war meine Klippe, der einzige Ort an dem ich so sein konnte wie ich wirklich war, an dem ich nicht immer so tun musste als wäre alles gut.

Genauso war es früher auch schon gewesen, nur eine Sache, für mich die entscheidende überhaupt hatte sich verändert.

Kurz vor dem bestimmt zweihundert Meter tiefen Abgrund ließ ich mich nieder und umschlang meine angezogenen Beine mit meinen Armen.

Früher war ich hier immer mit meinem Dad gewesen und auch wenn ich alles dafür tun würde um dies so oft wie damals zu wiederholen, wusste ich ganz genau, dass es niemals wieder passieren würde.

Ich spürte wie mir die Tränen erneut die Wangen hinab rannen, aber in diesem Moment fühlte ich mich selbst um sie wegzuwischen zu schwach, sodass ich sie einfach still ihre Bahnen folgen ließ.

Ein und dieselbe Frage, die mich auf jeden Schritt, jede Sekunde meines Lebens begleitete, tauchte wieder in meinen Gedanken auf: War es alles meine Schuld gewesen?

Am liebsten würde ich mir verbieten auch nur an sie zu denken, doch gleichzeitig wusste ich, dass sie stimmte. Es war meine Schuld gewesen, auch wenn es keiner wusste und es gab nichts auf dieser Welt mit der ich sie je wieder würde begleichen können.

Denn ich hatte es doch gesehen! Verzweifelt vergrub ich meinen Kopf in meinen Händen. Schon solange ich denken konnte, hatte ich diese Visionen und auch wenn ich damals erst zwölf gewesen war, hätte ich wissen müssen, dass sie sich immer bewahrheiteten.

Doch ich hatte genau nichts gemacht, als ich gesehen hatte, wie meinem Vater hier beim klettern kurz vor dem Vorsprung auf dem wir beide früher immer gepicknickt hatten das Seil gerissen war.

Ich hatte gesehen wie er in die Tiefe stürzen würde und hatte es trotzdem nicht geglaubt, einfach gehofft es würde nicht wahr werden würde.

Erst als ich knapp zwei Wochen später gegen Abend mit meiner kleinen Schwester aus dem Park gekommen war und meine Mutter weinend auf unserem Sofa vorfand, hatte ich verstanden.

Verstanden, dass meine Visionen ausnahmslos immer zur Realität werden würden und das ich es so einfach hätte verhindern können.

Er selbst hatte mir angeboten an diesem Tag mitzukommen, doch ich hatte abgelehnt. Vielleicht hätte ich ihn retten können, wäre ich nicht so egoistisch gewesen, aber zumindest warnen, das hätte ich gekonnt.

Das entscheidende war jedoch, dass ich es nicht getan hatte. Und nur deswegen war es soweit gekommen.

Noch am selben Abend war ich nach hier geflüchtet und was als Notlösung um allein sein zu können begonnen hatte, war inzwischen der wohl festeste Bestandteil meines Lebens.

Weil hier der beste Ort war um seine Gedanken zu sortieren und in Erinnerungen zu schweben, auch wenn sie schmerzhaft waren, aber vor allem um das Gefühl zu haben, ihm nahe sein zu können.

Ich hob meinen Kopf an und legte ihn in meinen Nacken um die unzähligen Sterne über mir zu bewundern. Jedes mal wenn ich sie sah, wünschte ich mir insgeheim, dass er nun einer von ihnen war und immer hinunter auf die Erde sehen konnte. Um seine beiden jüngsten Kinder aufwachsen zu sehen, obwohl die älteste ihm um diese Chance beraubt hatte.

Noch an dem Abend seines Todes hatte ich mir geschworen nie wieder auch nur irgendjemanden an mich heranzulassen oder auch nur ein Bruchstück dessen zu offenbaren, wer ich wirklich war.

Doch dann war Fabi gekommen und für meine Verhältnisse hatte ich alle meine Lebensregeln sofort über Bord geworfen.

Heute Abend hätte ich mich ihm vielleicht mehr geöffnet als je einer Person zuvor, doch am Ende hätte er dies wahrscheinlich sowieso nur benutzt um mich verletzten zu können, um etwas gegen mich in der Hand zu halten, das hatte er ja nur zur genüge bewiesen.

Das alles zeigte doch nur, dass man keinem, nein wirklich niemanden vertrauen konnte und genau das schwor ich mir in dieser Sekunde.

Niemals, unter keinen Umständen würde ich jemandem zeigen wer ich wirklich war, oder auch nur daran denken.

Danach verschwamm der Himmel mit seinen Millionen von Sternen unter meinen Tränen wieder zu einem einzigen, leuchtendem Universum, aber ich nahm es gar nicht richtig wahr, viel zu sehr war ich unter dem Schutt meiner Welt, die nur noch aus Scherben zu bestehen schien gefangen.

Weil ich durch dich leben lernteTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang