32. Kapitel

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Aldrins Sicht:

Ihre Worte hallten in meinen Gedanken nach während ich behutsam weiter über ihre Haare fuhr. Ich wusste nicht, was dieser kurze Satz normalerweise in mir ausgelöst hatte, aber wahrscheinlich nicht weniger als eines der schönsten Gefühle der Welt.

Weil ich es endlich geschafft hatte, das sie sich mir öffnete, nicht länger versuchte alles von ihr vor mir zu verbergen, mir vielleicht sogar ein kleines bisschen vertraute. Aber am allerwichtigsten: das Marleene meine Gegenwart nicht mehr bloß wie früher als einen nicht zu ändernden Umstand ansah, sondern anscheinend froh darüber war.

Doch jetzt, innerhalb einer Sekunde hatte sich mal wieder alles geändert. Unter diesen Umständen hätte ich niemals gewollt, das sie die Worte aussprach, auf die von ihr schon so lange gehofft hatte. Denn nun waren sie vollkommen unwichtig, mir geradezu egal.

Im Moment zählte nur sie, das kleine, dünne und so schrecklich verloren wirkende Mädchen mit ihren Locken und den feinen Gesichtszügen, die mir bereits mehrmals den Atem geraubt hatten. Das Mädchen, dessen Kopf gerade an meiner rechten Schulter ruhte, während ihre Tränen unaufhörlich in mein T-Shirt sickerten und ich nichts tun konnte, um ihr ihren Schmerz auch nur im Ansatz zu nehmen.

Noch immer konnte ich sie nicht verstehen, hatte keine Ahnung von dem, was heute passiert sein musste, aber das brauchte ich gar nicht, denn allein die Tatsache das wir hier seit Stunden so saßen war Beweis genug dafür, das es überhaupt geschehen war.

Ich wusste nicht was sie alles mit angesehen haben musste, doch wollte es auch gar nicht von ihr hören, zumindest vorerst nicht.

Alle sagten immer man sollte darüber reden, dann würde es nicht mehr so weh tun, aber für mich war dies immer das Allerschlimmste gewesen.

Unbewusst schlang ich meine Arme noch enger um sie, obwohl sie davon nichts bemerken würde, dafür war sie im Moment viel zu tief in ihrer eigenen Welt verloren gegangen.

Allzu gern hätte ich sie daraus ins hier und jetzt zurückgeholt, die schrecklichen Bilder die sie jetzt wahrscheinlich vor ihren Augen sah für immer verschwinden lassen, doch zum einen konnte ich es nicht und zum anderen wusste ich, dass sie da durch musste. Denn sie musste die Chance haben Abschied zu nehmen und all die schrecklichen, aber auch die vielen, wunderschönen Momente die sie mit ihnen erlebt hatte, noch einmal zu durchleben.

Eine einsame Träne rann meine Wange hinab, doch ich wischte sie nicht weg, denn ich wollte Marleene in diesem Augenblick nicht loslassen, nicht allein lassen, nicht mal für eine Sekunde.

Ich wusste wie sie sich fühlen musste, zumindest im Ansatz und deswegen auch, das es nichts gab, was ich jetzt für sie tun konnte, außer da sein vielleicht. Und das würde ich, wenn sie mich ließ sogar viel länger als sie sich überhaupt vorstellen konnte.

Was ich ihr vorhin leise ins Ohr geflüstert hatte, war nicht bloß so dahingesagt gewesen, nein ich hatte es vollkommen ernst gemeint. Denn mir war klar geworden, wie wichtig sie mir war.

Ich konnte es nicht erklären, schließlich kannte ich sie erst zwei, drei Wochen, doch seit unserer ersten Begegnung hatte ich sie nicht mehr aus meine Gedanken verbannen können. Sie war immer da gewesen, ihre tiefgrünen Augen mit den braunen Sprenkeln die man nur entdeckte wenn man ganz genau hinsah, ihre Locken und ihr leichtes Lächeln, welches ihre feinen Lippen zierte und das ich bis jetzt vielleicht nur ein, zweimal gesehen hatte. Doch trotzdem hatte ich es schöner gefunden als jedes andere.

Sie löste etwas in mir aus was ich noch nie zuvor gespürt hatte und war mir innerhalb weniger Tage wichtiger geworden als jede andere Person.

Vielleicht wusste ich nicht viel über sie, aber ich spürte einfach, dass es richtig war, das sie richtig war und das ich alles dafür geben würde bei ihr zu sein.

Immer.

Auch wenn sie beginnen würde, es einzusehen, es zu verstehen und auch darüber zu reden. Denn das war für mich damals am allerschlimmsten gewesen, zu reden, darüber zu reden. Weil es dann mit einem mal real wurde. Wenn man es aussprach war es nicht länger bloß ein Gedanke, den man nicht wahrhaben wollte, sondern es wurde zur Realität, der eigenen Realität.

Nach unserer ersten Begegnung auf der Brücke war sie mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen und als ich sie kurz darauf an genau dieser Klippe beobachtet hatte, hatte ich mich immer gefragt, was sie wohl so sehr mitnahm, was sie so sehr vor allen anderen zu verbergen versuchte, obwohl sie alleine daran zu zerbrechen schien.

Ich wusste es nicht, aber langsam wurde mir immer klarer, dass Marleene ihre Gründe gehabt hatte, Gründe die schlimmer sein mussten, als sie es jemals hatte durchblicken lassen.

Ihre einsamen Schluchzer wurden immer leiser, während ein eiskalter Schauer meinen Rücken hinabfuhr und ich langsam über ihren schmalen Rücken strich.

Geduldig wartete ich, bis sie ganz verstummt war und ich wusste, das sie eingeschlafen sein musste. Endlich, denn nun hatte sie die Chance in eine Traumwelt zu flüchten, in der noch alles gut zu sein schien und konnte sich wenigstens für ein paar Stunden erholen, bevor sie wieder in ihr grausames Leben zurückgerissen werden würde.

Erst als ich in den Himmel blickte und die Sterne sah, nahm ich war, dass es um uns herum inzwischen schon dunkel geworden war.

Vorsichtig nahm ich ihren Kopf in meine rechte Hand und wischte ihr mit meiner Linken die Tränen von den nassen Wangen, bevor ich unter ihre Knie fasste und mich langsam mit ihr erhob.

Wir mussten nach Hause, weg von hier, auch wenn die Klippe schon immer der einzige Ort gewesen war, an dem sie sich hatte zurückziehen können. Langsam ging ich auf den Trampelpfad zu, sie noch immer in meinen Armen und konnte auf gar nichts anderes achten als auf ihr schlafendes Gesicht, dass so friedlich wirkte als wäre nie etwas passiert.

Während ich ihr im stillen genau hier vor wenigen Wochen also versprochen hatte, das ich alles dafür tun würde, dass wieder das Strahlen ihre wunderschönen Lippen zieren würde, das ihr schon vor so langer Zeit verloren gegangen zu sein schien, konnte ich heute nicht mehr sagen, ob ich das auch nur Ansatzweise schaffen würde. Aber ich würde es versuchen, immer, immer wieder und mit allem was ich hatte.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now