28. Kapitel

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Aldrins Sicht:

Schon bevor die Haustür leise ins Schloss fiel hatte ich gewusst, dass ich auf meine Frage keine Antwort bekommen würde, doch trotzdem schien mir das kleine Lächeln einfach nicht von meinen Lippen weichen zu wollen, während ich noch immer mit der bereits leeren Kaffeetasse in meiner Hand an sie dachte.

Wie sie zusammengezuckt war, als ich mich zu Wort meldete und die Tatsache, dass sie sich das Lachen genauso sehr hatte verkneifen müssen wie ich, weil sie scheinbar selbst nicht begreifen konnte, wie sie mich hatte übersehen können.

Aber vor allem musste ich an ihre roten Locken denken, die weich über ihre Schultern gefallen waren und anscheinend genauso wenig zu bändigen waren wie sie selbst. Ihre dunkelgrünen, funkelnden Augen, die heute jedoch nicht nur tausend Geheimnisse, sondern auch etwas anders ausgestrahlt hatten, von dem ich noch immer nicht mit Sicherheit sagen konnte, was es eigentlich war.

Doch es hatte gereicht um mich dazu zu verleiten zumindest zu hoffen von ihr eine Antwort auf meine Frage zu bekommen.

Seufzend lehnte ich mich nach vorne, stellte die Tasse auf den Tisch und fuhr mir einmal durch die Haare. So kam ich einfach nicht weiter. Zwar hatte ich das Gefühl, dass wir uns seit gestern Abend näher gekommen waren, aber ich wusste, dass das bei ihr nichts bedeuten musste, denn in diesem Bezug änderte sie ihre Meinung schneller als ich sie nur beim Namen nennen konnte und nach wie vor war ich trotzdem viel zu weit von ihr entfernt.

Viel zu weit entfernt um sie zu verstehen, viel zu weit entfernt um ihre Geheimnisse zu kennen und ihr helfen zu können, obwohl ihre Hilflosigkeit von Tag zu Tag größer zu werden schien, auch wenn sie alles Mühe gab sich das nicht anmerken zu lassen.

Ohne weiter nachzudenken sprang ich auf und ignorierte den Schmerz in meinem Oberschenkel als ich an die massive Holzkante des Tisches stieß, während ich die Küche auf dem selben Weg verließ wie sie wenige Augenblicke zuvor.

Eilig zog ich meine Schuhe an, schnappte meinen auf dem weiß lackierten Schuhschrank liegenden Schlüssel und eilte die drei steinernen Treppen hinunter, bevor ich die Zeit finden konnte meinen Entschluss doch noch einmal zu überdenken.

Vielleicht verstand ich sie auch einfach nur zu gut, vielleicht war sie mir in der kurzen Zeit schon viel zu wichtig geworden und deshalb erkannte ich wie es ihr wirklich ging, aber das war nicht das, was mich in diesem Moment beschäftigte. Viel mehr wollte ich endlich herausfinden wie ich all den Schmerz und das Leid das sie trug von ihren schmalen Schultern nehmen konnte.

Deshalb zögerte ich auch nicht lange als ich gerade noch sah, wie sie links von mir am Straßenende nach rechts abbog und lief zu genau der Seitenstraße, in der sie sich jetzt befinden musste.

Eine schlaue Idee? Ganz sicher nicht, so viel wusste ich, denn das Risiko von ihr entdeckt zu werden musste das, dieses eine Mal Glück zu haben, so ungefähr um das tausendfache übersteigen, aber etwas anderes viel mir einfach nicht mehr ein.

So unauffällig wie möglich versuchte ich ihr zu folgen, immer darauf bedacht möglichst viel Abstand zu halten, aber Marleene trotzdem nicht aus den Augen zu verlieren.

Wohin sie wohl ging? Ich hatte keine Ahnung, nur das es diesmal nicht ihre Klippe sein würde, dessen war ich mir schon bald ziemlich sicher, denn sie schlug eine ganz andere Richtung ein.

Außerdem schien sie auch zu versuchen nur Nebenstraßen zu benutzen, was ich erst später verstand. Zwar waren die Hauptstraßen in unserer kleinen Stadt nie wirklich belebt, aber das Risiko von jemandem, der zufällig vorbeilief erkannt zu werden, war doch deutlich höher als hier, wo man höchstens alle fünf Minuten einer anderen Person über den Weg zu laufen schien.

Sie wechselte über die schmale Straße nach links und bog kurz darauf ab, jedoch nicht ohne sich noch einmal umzudrehen.

Schon als ich gesehen hatte wie sie einen Fuß auf das dunkle Teer gesetzt hatte war ich stehen geblieben und hatte mich ganz eng an die dichte Hecke des Gartens vor mir gepresst, sodass sie mich hoffentlich nicht sehen konnte.

Es war verblüffend wie wenig ich von ihr wusste, aber sie dennoch so gut kannte, dass ich mir in ihrem Verhalten, so wie jetzt so sicher war.

Ohne das ich es bemerkt hatte, hielt ich die Luft an, während ich mich langsam immer weiter bückte, damit sie mich ja nicht sehen konnte und überlegte gleichzeitig schon nach einer passenden Ausrede, falls sie doch gleich vor mir stehen sollte.

Angespannt zählte ich langsam bis zehn, doch traute mich nicht schon aus meinem Versteck zu kommen, aus Angst, dass sie sich noch immer abwartend umsehen und mich dann entdecken könnte.

Ich hatte keine Uhr dabei, doch ich zählte noch mindestens drei Mal bis sechzig, während ich mich immer weiter entspannte, da ich mir immer sicherer wurde, dass sie mich nicht entdeckt hatte, das sie nicht gleich plötzlich vor mir stehen würde, bevor ich mich erhob.

Wie Marleene überquerte ich ebenfalls die Straße und spähte in die lange Sackgasse hinein, die weit vor mir einen leichten Bogen nach rechts machte.

Zuerst konnte ich sie nicht entdecken und wurde schon leicht panisch, während mich das Gefühl beschlich, sie verloren zu haben, doch dann sah ich sie, dicht an einen Busch in dem Garten des vorletzten Hauses gepresst, das ich von hier noch sehen konnte.

Von hier aus konnte ich ihre Gesichtszüge nicht erkennen, doch das brauchte ich auch gar nicht, denn ihre Verzweiflung konnte ich auch noch hier spüren.

Es dauerte aber noch weitere fünf Sekunden, bevor ich verstand, was sie da eigentlich machte. Fünf Sekunden, bis ich die dünne Frau und die zwei kleinen Kinder, ein Junge und ein Mädchen entdeckte, die gerade auf genau jenem Grundstück keine drei Meter von jenem Busch entfernt entlang zu einem kleinem, schon etwas heruntergekommenen Auto gingen.

Auch wenn ich wusste, das ich eigentlich gehen musste, wenn ich nicht von Marleene entdeckt werden wollte blieb ich genauso wie schon die ganze Zeit stehen, denn die Situation zog mich in ihren Bann, weil ich irgendetwas daran nicht zu verstehen schien.

Die Frau half den Kindern ins Auto zu steigen, bevor sie sich selber die Fahrertür öffnete. Wenig später setzte das Auto rückwärts und fuhr anschließend davon.

Nun glitt mein Blick wieder zu Marleene hinüber, die noch genauso an die Zweige gepresst dastand wie zuvor, bevor ihre Knie langsam nachgaben und sie in sich zusammensackte.

Und während sie ihren Kopf auf ihre Knie legte und ihre Arme um ihre angezogenen Beine schlang verstand ich etwas. Ich verstand, dass das nicht irgendein Grundstück war, auf dem sie da saß, dass die drei Menschen nicht bloß irgendwelche Personen für sie gewesen sein mussten.

Nein, das Haus in diesem Garten war ihr früheres Zuhause gewesen und die Mutter mir ihren Kindern ihre Mutter mit ihren Geschwistern, ihre Familie.

In diesem Moment hätten ich alles dafür gegeben zu ihr zu rennen und sie in die Arme zu nehmen um ihr ins Haar zu flüstern, das alles wieder gut werden würde. Und wahrscheinlich hätte ich dies wirklich getan, auch wenn ich wusste, das ich ihr das schon lange nicht mehr versprechen konnte, denn lange nicht alle Wunden konnten geheilt werden und wie sehr sie mich dafür hassen würde, dass ich ihr ohne ihre Erlaubnis gefolgt wäre, wenn in diesem Moment nicht mein Handy geklingelt hätte.

Geistesabwesend zog ich es aus meiner Hosentasche und starrte auf die Textnachricht, bis das einzige Wort das Carla mir geschrieben hatte plötzlich Gestalt vor meinen Augen annahm und ich seinen Sinn verstand: „Notfall!!!".

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now