38. Kapitel

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Marleenes Sicht:

Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken, denen ich schon Stunden lang versucht haben musste zu entfliehen und hektisch fuhr ich mir über meine nassen Wangen, obwohl ich wusste wie wenig das helfen würde.

Erst als ein paar Sekunden verstrichen und niemand eintrat, fiel mir wieder ein, dass man hier ja wirklich auf eine Antwort wartete.

„Herein", rief ich schnell und mit erstaunlich fester Stimme.

Zuhause hatte das schließlich nie jemand getan, ich war Milo und Marie ja schon dankbar gewesen, wenn sie kurz anklopften, bevor sie wie so oft meine Zimmertür aufgerissen hatten um mir etwas zu zeigen oder zu erzählen.

Doch deshalb war es nur noch ungewohnter, als die Tür langsam geöffnet wurde. Noch schmerzhafter, denn das hier war weder meine Tür, noch würden es Milo, Marie oder Mum sein die sie öffneten.

Schnell versuchte ich die Tränen weg zu blinzeln, die für Sekundenbruchteile erneut alles um mich herum verschwimmen ließen und blickte plötzlich in ein paar unsichere grüne Augen.

„Oh... ich wusste nicht...", das Mädchen mit den so unglaublich hellblonden Haaren zog verunsichert ihre Schultern hoch: „Ich wollte dich nicht stören."

„Alles gut", noch einmal wischte ich mir über mein Gesicht, mir bewusst das meine verheulten Augen dadurch auch nicht verschwinden würden.

„Äh, ich wollte nur kurz sauber machen...", noch immer beäugte mich das Mädchen mit den Sommersprossen auf dem Nasenrücken, das ungefähr in meinem Alter sein musste mich und schien peinlich berührt, mich gestört zu haben.

„... aber ich komme einfach später noch mal wieder, wenn es dir besser passt."

Sie hatte sich schon umgedreht und war dabei die Zimmertür hinter sich zu schließen, bevor ich mich endlich aus meiner Starre lösen konnte.

„Nein"

Verwundert drehte sie sich zu mir um.

„Ich meine, du kannst ruhig bleiben"

Sie nickte fast unmerklich, aber erst als sie ganz in mein Zimmer trat und die Tür schloss, fiel mir ein, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt hatte.

„Ich bin übrigens Marleene."

„Ich heiße Carla", ein vorsichtiges Lächeln huschte über ihre vollen Lippen, bevor sie sich einfach umdrehte.

Sekundenlang starrte ich sie an und konnte gar nicht begreifen was sie da gerade tat, bis ich den weißen Staubwedel in ihrer rechten Hand sah, mit dem sie begann über die Schränke auf der anderen Seite des Zimmers zu fahren, obwohl sie noch total sauber zu sein schienen.

Die ganze Situation kam mir auf einmal fürchterlich falsch vor. Noch immer hockte ich in einer der weichen Decken, eingekuschelt in meinem Bett und beobachtete Carla, die tatsächlich mein Zimmer putzte.

So lange ich denken konnte, hatte ich mich selber um mein Zimmer gekümmert, nicht genug, meistens auch um Marie und Milos, wenn nicht sogar um das ganze Haus, doch nie hatte mir diese Tatsache mir etwas ausgemacht.

Aber jetzt hier so zu sitzen und ihr tatenlos zuzusehen, das machte es mir schon.

Ohne weiter nachzudenken schlug ich die Decke zurück und erhob mich langsam.

Ich wusste nicht wie viel Zeit verstrichen war, seit ich völlig fertig in Aldrins Armen eingeschlafen war, doch auch die Länge der Zeit, in der ich in Gedanken versunken auf dem Bett gelegen hatte, konnte ich einfach nicht mehr zuordnen. Waren es Stunden gewesen, oder ganze Tage?

Erst als ich direkt vor Carla stand und ihr wieder ins Gesicht blickte, bemerkte ich ihren verwunderten Gesichtsausdruck, der mich trotzdem nicht von meiner Frage abbringen konnte: „Du hast nicht zufällig noch einen zweiten Staubwedel?"

Bevor ich auch nur zu Ende gesprochen hatte, schossen ihre Augenbrauen in die Höhe.

„Ja, klar, wieso?", sie zog einen weiteren, der mit dem ersten komplett Identisch zu sein schien aus ihrer weiß-goldenen Schürze, die mir erst jetzt so richtig auffiel und hielt ihn unschlüssig in ihrer Hand.

„Weil ich dich die ganze Arbeit bestimmt nicht alleine machen lassen werde, wenn du der Meinung bist, das sie getan werden muss.

Ihr darauf folgender, total perplex und überraschter Gesichtsausdruck, der mich erstaunlicher Weise ziemlich doll an den von Marie erinnerte, als ich ihr vor ein paar Jahren erklärt hatte, das Süßigkeiten, egal wie lecker sie schmeckten nicht an Bäumen wachsen konnten, nachdem sie Schokolade im Garten vergraben hatte, brachte mich zum Lachen.

Auch Carla fiel wenige Sekunden später mit ein, als ich nach dem Staubwedel gegriffen hatte und sie endlich zu verstehen schien, dass ich es ernst meinte.

Bevor wir uns wieder der Arbeit widmeten griff sie nach ihrem Handy und machte leise Musik an.

Danach begann sie eines der großen, bestimmt uralten Bücherregale zu putzen und ich nahm mir den riesigen, wenn auch noch komplett leeren Kleiderschrank vor, der fast schon als Ankleidezimmer hätte durchgehen können.

Doch kaum hatte ich auch nur die schweren Holztüren geöffnet, stand Carla auf einmal wieder neben mir und stupste mir das weiche Ende des Staubwedels auf die Nase, bevor ich überhaupt die Chance hatte meine Hände abwehrend zu erheben.

An sich war es nichts besonders, nur zwei Mädchen, die begannen sich völlig abgedreht zur Musik zu bewegen und einander wie Grundschüler mit einem Staubwedel jagten, doch für mich war es das.

Weil ich mich auf einmal so leicht fühlte, so leicht, sorglos und frei wie schon lange nicht mehr, weil in diesem Augenblick nur der Moment zu zählen schien, in dem ausnahmsweise einmal alles in Ordnung war.

Weil es nichts gab, worüber ich mir Sorgen machen musste.

Doch dann, als Carla sich vollkommen außer Atem auf meine Bettkante setzte und sich die Haare aus dem Gesicht strich, sah ich in Gedanken jemanden ganz anderen dort sitzen.

Auf einmal waren da nur noch Marie, mit ihren ebenfalls langen, blonden Haaren, Milo und Mum.

Während mir mein Lächeln verrutschte, war es wieder da. Alles was passiert war und was ich wirklich für ein paar Sekunden hatte verdrängen können war mit einem Schlag wieder da.

Und ich wusste, ich hätte es niemals vergessen dürfen, denn wenn ich es verdrängte, verdrängte ich auch sie.

Aber das, das durfte ich nicht zulassen, niemals.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now