63. Kapitel

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Aldrins Sicht:

Sekunden, Minuten, Stunden, Tage. All dies schien mit einem Mal keine Bedeutung mehr zu haben, denn sie spiegelten alle nur dasselbe wider: Zeit.

Aber war Zeit überhaupt so wichtig, wie es alle immer annahmen? Für mich war sie noch nie so nebensächlich gewesen wie gerade jetzt.

Jetzt, wo alles was zählte das regelmäßige Piepen der vielen Maschinen um mich herum war, deren Schläuche zu dem weißen Krankenbett in dem kleinen, weißen Zimmer führten, an dessen Seite ich nun saß.

Auf einem unbequemen, einfachen Hocker, doch trotzdem traute ich mich nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.

Stattdessen saß ich also hier, ganz still um ja auch keinen der schwachen Atemzüge zu verpassen.

Die Atemzüge, die zu dem kleinen, noch tausendmal zerbrechlicher als sonst wirkendem Mädchen gehörten, dass inmitten von all dem in weißer Bettwäsche lag.

Inmitten von dem Bett, das für sie viel zu breit wirkte, inmitten von den unzähligen Schläuchen die zu ihr, oder den Maschinen zurück führten die uns beide umgaben, während sie so unglaublich verloren wirkte.

Lange Zeit hatte ich gezögert, bevor ich mich überhaupt getraut hatte ihre so feine rechte Hand in die meine zu nehmen, die die ganze Zeit über ganz still auf der Bettdecke gelegen hatte.

Sie hatte kalt gewirkt, so kalt, dass ich mich als ich sie mit meinen Fingern umschloss zuerst erschrocken hatte.

Doch trotzdem hatte ich sie seitdem nicht einmal für eine Sekunde losgelassen, während die Zeit um mich herum immer weiter zu einer verschwommenen Masse verschwamm.

Denn sie war nicht mehr wichtig. Alles woran ich denken konnte, war Marleene, das Mädchen mit den orange-roten Locken, dass noch stärker war als ich es jemals für möglich gehalten hatte und das nun schon wieder kämpfen musste. Obwohl ich mir im Stillschweigen doch tausend Mal geschworen zu haben schien, dass sie dies nie Mals mehr würde erleben müssen.

Kämpfen, für sich, für ihr Leben. Und keinen Moment, keinen Augenblick würde ich sie dabei alleine lassen.

Ich musste so in meinen Gedanken vertieft gewesen sein, dass ich das vorsichtige Klopfen an der Tür gar nicht bemerkt hatte. Erst als sich diese mit einem leisen Quietschen öffnete, bemerkte ich, dass eine Person in unser Zimmer eingetreten sein musste.

Trotzdem drehte ich mich nicht um, wollte Marleene keine Sekunde lang aus meinen Augen lassen und außerdem wusste ich sowieso schon, wer da hinter mir stand.

Es konnte keiner von den Ärzten oder Krankenschwestern sein, denn diese hätten schon längst mit ihrer Arbeit begonnen und sonst viel mir einfach keiner ein, der uns besuchen kommen würde, außer die Person, die nun unweigerlich hinter uns warten musste.

„Aldrin?"

„Ja", noch immer wandte ich meinen Blick nicht ab, während Carla an meine Seite trat.

Lange Zeit sagte sie nichts, wir beide starten einfach nur auf das Bett vor uns, auf Marleenes blasses Gesicht und ihre so friedlich geschlossenen Augen.

„Wie lange hast du schon nicht mehr geschlafen?", sie sprach ganz leise und behutsam, während sich langsam zu mir herum wandte.

„Ich weiß es nicht."

„Und ich wette, nicht seitdem du bei ihr bist. Willst du nicht mal eine Pause machen?"

„Nein", meine Stimme klang bestimmter als ich es gewollt hatte, doch ich entschuldigte mich nicht dafür, obwohl ich nur allzu gut wusste, dass Carla es nur gut meinte.

„Aldrin, du hast seit zwei Tagen nicht einmal die Augen geschlossen und dabei sehe ich nur allzu gut, wie müde du eigentlich bist!"

Sie hatte Recht, das wussten wir beide, doch noch immer schwieg ich, denn es gab nichts, was ich darauf hätte erwidern können.

Mein Entschluss stand fest: Ich würde hierbleiben. Marleene keine Sekunde von der Seite weichen, denn wenigstens dieses eine Mal wollte ich sie nicht im Stich lassen.

„Ich kann für dich übernehmen, auf sie aufpassen, würde es sogar gerne und das weißt du. Ein paar Stunden Schlaf würden dir echt guttun."

„Ich weiß", seufzte ich schließlich, denn es stimmte ja: „Aber ich kann hier jetzt nicht weg, okay? Ich kann sie nicht noch einmal alleine lassen, Carla."

„Ich weiß", Carla ging zu mir herüber und schloss mich in ihre Arme: „Sonst wärst du ja auch nicht du selber."

Sie löste sich wieder von mir: „Aber wenn du es dir anders überlegst, ich bin jederzeit da, ja?"

„Danke"

Ihren Schritten nach zu urteilen war sie schon wieder dabei zu gehen, doch trotzdem wusste ich, dass sie bei meinen Worten lächeln musste.

„Ist doch klar", ich hörte wie sie vorsichtig die Tür öffnete und diese wenige Sekunden später hinter ihr wieder ins Schloss fiel.

Mit einem Mal schien mich die Stille, die nun wieder in diesem kleinen, beklemmenden Raum herrschte und nur von den gleichmäßigen Geräuschen der Maschinen unterbrochen wurde zu erdrücken.

Ohne, dass ich länger darüber nachdachte erhob ich mich zum ersten Mal seit Stunden und trat noch näher an Marleenes Bett.

„Hey", vorsichtig streckte ich meine rechte Hand aus, die linke noch immer fest um ihre Finger geschlossen: „Ich weiß, dass du mich wahrscheinlich nicht hören kannst, aber... aber da ist noch so viel was ich dir sagen wollte..."

Ganz vorsichtig berührte ich ihre Schläfe, fuhr ihr über die unnatürlich kalte Wange und strich ihr mit dem Finger über die trockenen Lippen, die davon zeugten wie sehr sie die ganze Zeit über kämpfte.

„So viel, was ich dir sagen will.", langsam beugte ich mich immer weiter nach vorne, bis mein Gesicht nur noch wenige Zentimeter über dem ihren schwebte.

„Und die Tatsache, dass ich nicht weiß, ob ich das jemals werde tun können macht mir unbeschreiblich große Angst."

Meine Sicht verschwamm erneut, doch ich schaffte es nicht mehr länger die Tränen beiseite zu blinzeln: „Und deshalb... deshalb werde ich dir all das jetzt sagen..."

„Du, du bist mir einfach unglaublich wichtig...", begann ich, während die erste warme Träne über meine Wange rann: „... wahrscheinlich wirst du es gar nicht glauben, nach allem was passiert ist, aber das warst du mir immer, von der ersten Sekunde an und wirst es für immer sein."

Ganz vorsichtig beugte ich mich zu ihr hinab und gab ihr einen leichten Kuss auf die linke Schläfe, ehe ich meine Tränen endgültig nicht länger zurückhalten konnte.

„Denn Marleene, du bist einfach alles für mich: die Sonne in meinem Universum, um die mein ganzes Leben zu kreisen scheint, diejenige, die mir tausend Mal wichtiger als alles andere ist... und glaub mir, ich würde alles, wirklich alles dafür geben, wenn du dafür zu mir zurück kommen würdest..."

Wieder streiften meine Lippen ganz behutsam ihre Stirn: „Weil... weil ich dich Liebe. Immer geliebt habe und dich auch für immer lieben werde..."

Weil ich durch dich leben lernteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt