7. Kapitel

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Marleenes Sicht:

Das schrille Klingeln meines Weckers zerriss meinen traumlosen Schlaf, doch schon als ich mich zu meinem hölzernen Nachtschrank umdrehte, der neben meinem breiten Bett stand, bereute ich es mich überhaupt bewegt zu haben.

Mein Kopf dröhnte und mein Arm fühlte sich unendlich schwer an, als ich ihn ausstreckte und blind nach dem Metallgehäuse tastete.

Als der Lärm, der in meinen Ohren geschmerzt hatte endlich verklungen war, ließ ich mich zurück in mein Kopfkissen gleiten und wäre fast wieder eingeschlafen, als ein Bild vor meinem inneren Auge auftauchte.

Mit einem Mal fiel mir wieder ein, dass das alles nicht bloß ein böser Traum gewesen sein konnte, sondern die Realität, die in diesem Fall jedoch keineswegs besser zu sein schien.

Seufzend öffnete ich meine Augen und starrte an die weiße Decke, auf der sich die Lichtstrahlen, die durch meinen Rolladen fielen abzeichneten.

Es war also wirklich vorbei, endgültig und unüberwindlich. Denn die beiden in seinem Bett zu sehen, was ich bestimmt niemals wieder würde vergessen können, war mehr als Beweis genug gewesen.

Mit Mühe versuchte ich meine Tränen zurückzuhalten. Ja mir war bewusst, was das hieß: ich hatte Fabi verloren, die einzige Person die mir außerhalb meiner Familie jemals etwas bedeutet hatte, der ich halbwegs gezeigt hatte wer ich wirklich war.

Aber ich wusste auch, dass ich das eigentlich gar nicht gedurft hätte und unser jähes Ende schien das nur noch zu unterstreichen.

Meine Zimmertür, die mit Schwung aufgestoßen wurde und laut gegen meinen Schrank knallte, riss mich aus meinen Gedanken und noch bevor ich Milos, oder Maries Namen warnend aussprechen konnte, saßen die beiden auf meinem Bett.

„Du musst aufstehen!"

„Ja genau, sonst kommen wir zu spät.", Milo hatte sich über mich gebeugt und sah mich für einen Fünfjährigen ziemlich verantwortungsbewusst an.

„Und seit wann freust du dich auf die Schule?", murmelte ich leise.

Das Milo gerne zu seinem Kindergarten ging, weil er da seine ganzen Freunde traf war mir bewusst, aber Marie die in die zweite Klasse ging...

„Hat Mama dir nicht gesagt, dass wir heute mit der Parallelklasse in den Zoo gehen? Deshalb müssen wir jetzt aber auch unbedingt los!"

Bevor ich etwas erwidern konnte, war Marie bereits aufgesprungen und dabei wieder aus meinem Zimmer zu rennen.

Müde erhob ich mich und ignorierte dabei meine Kopfschmerzen. Gestern Nacht war ich noch viel zu lange an der Klippe gewesen, aber auch zu Hause in meinem Bett hatte ich stundenlang nicht einschlafen können.

Behutsam schob ich Milo, der mich immer noch abwartend ansah von meinem Bett: „Ich mach dir gleich Frühstück ja? Vorher muss ich mich nur kurz anziehen."

Fast schon bedächtig nickte er und kam noch einmal auf mich zu um mich zu umarmen.

„Danke", flüsterte er mir in meine Halsbeuge und rannte danach ebenfalls aus meinem Zimmer, während ich noch einen Moment sprachlos auf den fliederfarbenen Plüschteppich vor meinem Bett starrte. Immer wieder überraschte es mich, wie reif er schon für sein Alter war.

Keine zehn Minuten später stand ich in einer alten dunkelblauen Jeans, die mir schon lange an den Beinen zu kurz war und einem schlichtem weißen T-Shirt in der Küche und schmierte Milo sein Nutellabrot.

Seitdem mein Vater vor etwas mehr als vier Jahren gestorben war, war das Geld bei uns knapp und nur weil Mom von früh bis spät arbeitete, kamen wir gerade so über die Runden. Deshalb kümmerte ich mich Morgens auch um die beiden und auch wenn es zugegebener maßen manchmal wirklich nervig war, bedeuteten sie mir alles.

„Marie, sicher, dass du nichts essen möchtest?", mit einer hochgezogenen Augenbraue sah ich sie an.

„Nein, ich habe keinen Hunger."

„Dann nimm wenigstens das mit.", ich reichte ihr ihre prall gefüllte Brotbox, die sie sich stöhnend schnappte und in ihrem hellblauen Rucksack verschwinden ließ.

Sie freute sich schon ewig auf diesen Ausflug, da es schon Jahre her sein musste, dass wir das letzte Mal in dem Zoo der nächsten Großstadt gewesen war und sie sich wahrscheinlich kaum noch daran erinnern konnte, aber die Tickets waren einfach verdammt teuer.

Milos Brotbox verstaute ich sicherheitshalber selber in seinem kleinem Rucksack, der die Form eines Tigergesichts hatte, bevor ich ihm diesen in die Hand drückte.

„Geht schon mal Schuhe anziehen, ja? Ich komme gleich."

Die beiden nickten und verschwanden lachend im Flur, während ich mich gegen unsere Kücheninsel sinken ließ und meine Augen schloss. Ich wollte nicht mehr, nein ich konnte nicht mehr, aber ich wusste genau, dass ich musste. Denn niemals würde ich meine beiden kleinen Geschwister im Stich lassen, weil sie fast alles waren was mir geblieben war und wenigstens sie ein schönes Leben haben sollten.

Seufzend griff ich nach den Tellern, die links und rechts von mir standen und stellte sie neben die Spüle.

Danach ging ich erneut in mein Zimmer zu meinem großen, schön verzierten Holzschreibtisch und nahm mir meine Tasche von dem weißen, breiten Stuhl, der vor ihm stand.

Einen Moment verharrte ich so und sah mich um. Meine Schränke, die Bücherregale der Schreitisch, das Bettgestell und der Nachtschrank waren alle aus dem selben Holz und harmonierten perfekt zu meinem hellen Parkett. Der fliederfarbene Teppich spiegelte mit den gleichfarbigen Vorhängen meine Lieblingsfarbe wieder und immer wieder bewunderte ich die den schönen, gemalten Kirschbaum mit seinen rosafarbenen Blüten an meiner Zimmerwand.

Doch jetzt sah ich vor allen Dingen, dass dieses Zimmer aus einer Zeit stammte, in der nicht alles aber so viel mehr als jetzt noch gut gewesen war: wir hatten noch mehr Geld gehabt, waren eine glückliche Familie gewesen und vor allen Dingen hatte Dad noch gelebt.

Seufzend betrachtete ich noch einmal die feinen Zweige des Baumes an der Wand hinter meinem Bett, für die er geschlagene zwei Tage gebraucht hatte. Damals hatte ich sie einfach nur unendlich schön gefunden und meinen Vater für seine Geduld bewundert, doch jetzt waren sie fast das einzige was mich noch an ihn erinnerte.

Wie immer keimte der Schmerz und all die Schuldgefühle erneut in mir auf und schnell wandte ich meinen Blick ab und verließ mein Zimmer, wobei ich die Tür etwas lauter als nötig zuschlug.

Im Flur schlüpfte ich schnell in meine ehemalig weißen Sneaker, die gestern ganz schön etwas abbekommen hatten und sah Milo und Marie an, deren Wangen vor Aufregung schon ganz rot waren.

„Können wir los?", fragte ich die beiden und zu dritt verließen wir das Haus und hielten nur an der Garage an um mein Fahrrad zu holen.

„Darf ich?", fragte Milo und sah mit glänzenden Augen auf den für ihn viel zu hohen Sattel.

„Tut mir leid Schatz, aber heute ist Marie dran." Trotzdem nahm ich ihm seinen Rucksack ab und legte ihn zu Maries und meiner Tasche in meinen großen Korb.

Danach hob ich sie hoch und setzte sie vorsichtig auf den Fahrradsattel.

„Aber gut festhalten, ja?", sagte ich wie jeden Morgen zu Marie, als ihre kleinen Hände um den Lenker griffen und ich begann zu schieben, während Milo etwas trotzig neben mir zuerst zu der Grundschule ging, um danach ebenfalls zu seinem Kindergarten geschoben zu werden, bevor ich selber mit einem unguten Gefühl zu meiner Schule fuhr und vergeblich versuchte meine Gedanken zu sortieren.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now