31. Kapitel

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Marleenes Sicht:

Ich fühlte nichts. Seit ich es, seit ich sie gesehen hatte war meine Welt zwar wie ein einziger Scherbenhaufen in sich zusammengebrochen, aber da war nichts anderes mehr gewesen. Kein Schmerz, keine Angst, kein Hass, obwohl ich wusste, das ich es hätte verhindern können, oder zumindest müssen.

Aber trotzdem war da nichts gewesen, nur die Leere die mich jedes meiner Gefühle beraubt zu haben schien und mich fühlen lies wie der schlechteste Mensch auf der ganzen Welt.

Wie ich hier her gekommen war konnte ich nicht mehr sagen, denn die ganze Zeit über hatte ich nichts anderes vor Augen als sie. Sie, wie sie in dem Auto lagen, bewusstlos und wie mich jemand davon abhielt als ich zu ihnen rennen wollte.

Nein, daran konnte ich jetzt nicht mehr denken. Die ganze Zeit über hatte ich nichts gefühlt, nichts gefühlt, weil ich gehofft hatte, dass ich schlichtweg falsch lag. Das es meiner Familie in Wirklichkeit gut ging und sie gemütlich zum Abendbrot am Stubentisch saßen, wie sonst so oft.

Dann war Aldrin gekommen, ich hatte ihn schon gehört bevor er zu mir trat und mich weg von dem Abgrund zog. Er hatte genauso gut wie ich gewusst, dass ich nicht springen würde, aber sicher war sicher.

Eigentlich hatte ich mithelfen wollen, aber ich konnte einfach nicht. Genauso wenig wie ich meine Hand hatte wegziehen können, als er danach gegriffen hatte, oder im Ansatz Widerstand leisten, als er meinen Kopf ganz vorsichtig an seine Schulter lehnte.

Ich wusste, dass ich das eigentlich nicht zulassen sollte, aber in diesem Moment fehlte mir einfach die Kraft die ich brauchte um ihn von mir wegzuschieben.

Weil ich es in diesem Moment einfach nicht mehr schaffte Stark zu sein.

Außerdem wollte ich vielleicht auch gar nicht, das er ging. Ich konnte es mir selber zwar nicht eingestehen, aber er war mir wichtig, viel wichtiger als er es mir jemals hätte werden dürfen, auch wenn ich mir jetzt keine Gedanken darüber machen konnte.

Aber da war auch noch etwas anderes. Denn das er hier war, in diesem Moment und mich ganz still in seinen Armen hielt ohne auch nur den Versuch zu unternehmen irgendetwas zu sagen, machte alles anders. Real.

Mit einem Mal begann ich zu verstehen und auch wenn ich mich dagegen wehren wollte, wirklich einzusehen was passiert sein musste, konnte ich es schlichtweg nicht mehr, denn es gab keinen Grund warum er mich sonst so halten würde.

Ich hatte es zwar mit eigenen Augen gesehen, aber geschafft es so weit zu verdrängen, mir so sehr einzureden, dass ich wieder einmal nur eine meiner Visionengehabt hätte, was ja schon mehr als schlimm genug war, dass ich mir eben doch nicht mehr sicher gewesen war.

Doch Aldrin, der mich jetzt, hier in seinen Armen hielt, war der Beweis dafür, und als er mir dann auch noch leise die Frage: „War das der Grund wegen dem du verschwinden musstest?"' in mein linkes Ohr flüsterte, von der ich mir geschworen hatte sie ihm niemals zu beantworten, wurde alles mit einem Mal wirklich, es würde zur Realität, meiner Realität.

Mit einem Mal waren all meine Gefühle zurück und ohne das ich es wirklich bemerkte begannen die Tränen sich einen Weg zu bahnen. Einen Weg meine Wangen hinab in Aldrins weißes T-Shirt, bis dieses vollkommen durchnässt hat.

In meinen Gedanken war ich schon lange nicht mehr hier, nicht mehr an der Klippe mit Aldrin, sondern bei meiner Familie.

Nur wie durch einen dichten Schleier nahm ich war wie er mich noch enger an sich zog und begann mir ganz vorsichtig über meinen Kopf und meinen Rücken zu streichen.

Noch immer schwieg er, denn er schien zu wissen, dass es nichts gab, was er jetzt sagen konnte, aber ich wusste, das er es auch bemerkt haben musste.

Das meine ohnehin schon zumindest bei ihm wankenden Mauern mit einem Mal zusammengebrochen waren und ich momentan nicht einmal die Kraft dazu hatte, auch nur einen jämmerlichen Stacheldrahtzaun um meine Seele herum aufzustellen.

Trotzdem fragte er mich nicht aus, versuchte nicht hinter mein Geheimnis zu kommen, erwartete nicht, dass ich auf seine Frage antwortete.

Aber warum eigentlich nicht? Die Mauern hatten mich mein Leben lang nur begleitet, weil ich niemandem hatte zeigen können was wirklich in mir vorging und das auch nur als zwei Gründen. Entweder hatte ich meine Familie beschützen wollen, oder das Geheimnis von meinen Visionen, dass ich auch nur verheimlicht hatte, damit Mum, Marie und Milo nicht erfahren mussten, das Dad nur wegen mir gestorben war.

Nur wegen ihnen war ich die letzten Monate, Jahre stark geblieben, doch spielte das jetzt überhaupt noch eine Rolle? Jetzt wo ich sie nicht mehr beschützten musste, es nicht mehr konnte?

Machte es noch einen Unterschied ob ich die Fassade die fast alles von mir vor anderen verbarg erhielt oder endgültig zusammenbrach? Machte es einen Unterschied ob ich verzweifelt immer weiter versuchte stark zu sein, oder endlich, endlich aufgeben konnte?

Mir war bewusst, dass ich nicht richtig handelte, mich wahrscheinlich falsch entschieden hatte, doch einmal in meinem Leben wollte auch ich den leichten Weg nehmen können, einmal nicht stark sein müssen, als ich leicht nickte.

Das war meine Antwort auf die Frage die Aldrin mir bestimmt schon vor zehn Minuten, oder waren inzwischen sogar schon Stunden vergangen gestellt hatte, denn zu mehr war ich einfach nicht im Stande.

Er schien es jedoch zu verstehen, denn er schlang seine Arme nur noch enger um meinen Rücken, als könnte er so verhindern, dass ich diese ganze Situation nochmal durchleben musste.

„Mustest...", seine heisere Stimme brach und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass das Ganze auch ihm ziemlich mitzunehmen schien: „Musstest du es mit ansehen?"

Bilder flogen an meinem innerem Auge vorbei. Bilder die ich am liebsten für immer aus meinem Gedächtnis verbannt hätte, aber von denen ich mir doch sicher war, dass ich sie niemals wieder würde loswerden können.

Das verunfallte Auto an dem Baumstamm an Straßenrand und wie sehr es gequalmt hatte, als ich nach dem fürchterlichen Knall aus meinem alten Garten hochgeschreckt war. Intuitiv hatte ich gewusst, das etwas schlimmes passiert sein musste, doch erst als ich wenige Straßen später unser rotes Auto genauso hatte dastehen sehen, hatte ich es verstehen können.

Wenn auch lange noch nicht glauben. Erst als ich neben dem Wagen stand und durch die zerbrochenen Scheiben geblickt hatte, auf ihre nach vorne gefallenen Köpfe und all das Blut im Wagen.

Keiner der Menschen die sich inzwischen um die Unfallstelle versammelt hatten, hatte etwas gesagt, geschweige denn etwas unternommen. Sie hatten die drei schon lange aufgegeben, aber ich noch nicht.

Ich hatte die klemmende Tür aufreißen wollen, als ein paar kräftige Hände mich mehrere Meter zurückgezogen hatten, Sekundenbruchteile bevor das, was von unserem Auto noch übrig geblieben war in Flammen aufging.

Mitsamt Marie, Milo und Mum, während keiner versuchte das Feuer zu löschen, denn sie hatten schon lange vor mir realisieren können, das jede Hilfe zu spät kam.

Erst als ich mich nicht mehr wehrte und aufhörte gegen denjenigen anzukämpfen der mich festhielt, wurde ich losgelassen. Zu einem Zeitpunkt an dem selbst ich verstanden hatte, das ich nichts mehr für die drei würde tun können.

Ein leises Geflüster riss mich wieder in die Gegenwart zurück und auch wenn ich die Bilder nach wie vor viel zu lebendig vor meinem innerem Auge sah, war ich nicht mehr in ihnen gefangen.

Es dauerte eins, zwei Sekunden bevor ich wieder wusste wo und bei wem ich mich befand, während ich einfach nur Aldrins leisen Worten lauschte die immer wieder ein und denselben Satz wiederholten: „Du bist nicht allein, ich bin da und wenn du es nicht anders willst, lasse ich dich nie wieder gehen."

Ich verstand nicht was das wirklich bedeuten könnte, sondern war in diesem Moment einfach nur dankbar, dafür das er da war.

Ja, ich hatte ihm heute viel zu weit hinter meine Mauern, oder was von ihnen übrig geblieben war blicken lassen, aber ich musste auch für niemanden mehr stark sein. In diesem Augenblick war mir alles, wirklich alles egal. Ich hatte sie wirklich verloren, für immer.

Ohne darüber nachzudenken schlang ich meine Arme um Aldrins starke Schultern, während er mich noch näher zu sich zog und verbarg mein Gesicht in seinem mittlerweile von Tränen durchnässten Shirt. Eigentlich durfte ich ihm nicht vertrauen, ihm nicht zeigen wer ich wirklich war oder wie es mir ging, doch all das war mir jetzt egal, denn ich schaffte es keine Sekunde länger meine Fassaden aufrecht zu erhalten.

„Danke das du bei mir bist", schluchzte ich noch, bevor mich der Schmerz und die Trauer wieder in ihre eigene Welt sogen.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now