12. Kapitel

7 1 2
                                    

Marleenes Sicht:

Unentschlossen stand ich auf dem kleinen Pfad und blickte auf mein umgefallenes Fahrrad, dass jetzt bestimmt einige neue Kratzer hatte.

Nicht das mir das etwas gemacht hatte, schließlich konnte man es kaum noch schäbiger machen als es sowieso schon aussah.

Doch in den ganzen Jahren war das immer sein Platz gewesen und noch nie war es umgefallen.

Zufall, das es gerade jetzt geschah? Jetzt wo mich hier manchmal das merkwürdige Gefühl beschlich beobachtet zu werden, obwohl ich selber nur zu gut wusste, dass das schlichtweg unmöglich war, weil keiner diesen Ort kennen konnte?

Nein, ich glaubte nicht an Zufall. Streng genommen hatte ich noch nie an ihn geglaubt, denn wenn ich eines durch meine Visionen gelernt hatte, dann war es, dass alles, ja wirklich alles vorherbestimmt war.

Vorsichtig setzte ich meinen linken Fuß in das tiefe Laub neben dem festgetretenen Weg und überlegte wie ich jetzt fortfahren sollte.

Sollte ich etwa rufen? Und denjenigen, angenommen er oder sie wäre wirklich da zum hervortreten auffordern?

Eine Sekunde später musste ich wegen meiner naiven Idee selber den Kopf schütteln. Als ob in dieser oftmals so rücksichtslosen Welt auch nur irgendjemand auf so eine bitte hören würde.

Wenn ich eine Chance haben wollte, musste ich schon selber suchen.

Also bahnte ich mir meinen Weg durch die bestimmt zwanzig Zentimeter hohe Schicht aus heruntergefallenen Blättern und obwohl ich keine Ahnung hatte wo ich anfangen sollte, waren meine Schritte ziemlich entschlossen.

Ich hielt mich an den tiefen Ästen des Baumes links neben mir fest und blieb kurz stehen um mir eine Richtung auszusuchen, in die ich weitergehen sollte und wandte mich dann nach links.

Wenn hier wirklich jemand war, was ich mittlerweile selber schon wieder bezweifelte, und derjenige tatsächlich auch mein Fahrrad umgestoßen hatte, dann konnte er noch nicht weit gekommen sein.

Schließlich hatte ich von dem Felsvorsprung aus diesen Baum vorausgesetzt ich drehte mich zum Wald immer in Sicht.

Gerade wollte ich über eine Wurzel steigen um dem dicken Stamm zu umrunden, als mein Handy piepste.

Verwundert blieb ich stehen und zog es aus der Hosentasche meiner grauen Jeans. Wer konnte jetzt etwas von mir wollen? Freunde hatte ich ja nicht wirklich und heute musste meine Mutter nur vormittags Arbeiten, sodass Marie und Milo eigentlich auch schon lange mit ihr zuhause sein mussten.

Als ich trotzdem ihre Nummer auf dem kleinen, bereits seit zwei Jahren zersplitterten Display las, wurde mir auf einmal ganz mulmig zu mute.

Es war doch wohl keinem etwas passiert, oder?

Hektisch entsperrte ich mein Handy und öffnete ihre SMS: Hi Schatz, ich habe alles versucht, aber schaffe es heute nicht die beiden abzuholen. Könntest du das bitte übernehmen? Küsschen und bis heute Abend, Mom.

Seufzend schaute ich noch einmal auf die Uhrzeit und steckte mein Handy wieder ein. Es war bereits viertel vor vier und ich würde es niemals schaffen Milo um zehn vor und Marie um Punkt abzuholen.

Doch das war nicht das größte Problem. Auch wenn Mom es mir nicht gesagt hatte, schien sie schon wieder Überstunden machen zu müssen, was bedeutete, dass wir mal wieder ziemlich knapp bei Kasse waren oder unsere fällige Miete nicht bezahlen konnten.

Genervt, aber vor allem besorgt drehte ich mich um und ging zu meinem Fahrrad zurück. Ich fand es ja gut, dass sie diese Probleme von Milo und Marie fern hielt, doch auch zu mir verlor sie darüber immer kein Wort mehr als es absolut nötig war.

Dabei sah ich doch, wie viel sie arbeitete, teilweise mehr als zwölf Stunden am Tag und wie sie abends völlig fertig nach Hause kam. Trotzdem schaffte sie es noch sich mit schier unendlich viel Geduld und Liebe um die beiden Kleinen zu kümmern und auch wenn ich ihr schon viel half, hätte ich gerne noch so viel mehr abgenommen.

Aber vor allem wollte ich, dass sie endlich mal darüber redete, denn ich sah wie sehr es sie manchmal zerfraß, doch so sehr ich es auch versuchte, mir wich sie immer aus. Ich wusste, dass sie das nur machte um mich nicht zu belasten, aber das hätte sie ruhig jeder Zeit tun, denn seit Mimi, ihre beste Freundin nach Neuseeland ausgewandert war, hatte sie hier niemanden mehr. Und auch wenn sie mit ihr immer noch engen Kontakt pflegte, konnte man solche ernsten Themen eben nicht wirklich am Telefon besprechen.

Kaum war ich auf der Straße angekommen schwang ich mich auf den Sattel und fuhr los. So schnell es ging trat ich in die Pedale, aber nicht nur um noch pünktlich zu Milos Kindergarten zu kommen, sondern auch um zu fliehen.

Zu fliehen vor all den viel zu schmerzhaften Gedanken, die mir die Tränen in die Augen trieben und mir tagtäglich hinterherzuschreien schienen, dass alles meine Schuld sei.

Doch das mussten sie nicht, denn ich wusste es auch so: würde Dad noch leben, wäre nicht nur alles tausend mal besser, sonder meine Mom würde auch nicht leiden. Sie versuchte es zwar vor uns zu verbergen, aber ich wusste wie sehr sie ihn vermisste und wie oft sie genauso wie ich nachts weinte.

Hätte ich damals nur auf meine Vision gehört oder ihn begleitet, wäre alles gut. Einsam rann eine Träne meine Wange hinab, doch ich wischte sie nicht weg.

Fest stand, meine Familie brauchte mich und ich würde wortwörtlich alles für sie tun, würde stark für sie sein. Weil ich es ihr schuldete, aber vor allem, weil ich diese drei Personen mehr liebte als jeden anderen in diesem Universum.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now