26. Kapitel

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Marleenes Sicht:

In meinem Zimmer, dass nur gelegentlich durch die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos erhellt wurde, war es seit Stunden dunkel. Seit Stunden in denen ich nur versuchte endlich einzuschlafen um nicht weiter nachdenken zu müssen, darüber nachdenken zu müssen, auch wenn ich noch nicht mal wirklich sagen konnte, was „darüber" nun eigentlich für mich bedeutete.

War es Aldrin, der etwas in mir auslöste, was ich einfach nicht erklären konnte und der mir mittlerweile so viel mehr bedeutete als ich eigentlich geschworen hatte es jemals wieder zuzulassen? Oder hatte mir die Sache mit meiner Familie heute Abend einfach den Rest gegeben?

Seufzend drehte ich mich von meinem Rücken auf meinen Bauch, stemmte mein Gewicht auf meine Ellenbogen und strich mir meine Haare aus dem Gesicht.

Ich wusste es nicht, ich wusste gar nichts, so fühlte es sich momentan zumindest an. Nur zusehen konnte ich, wie mir mein Leben immer weiter entglitt ohne das ich etwas dagegen tun konnte, obwohl ich direkt daneben stand. Wie die Dinge, die ich mir gestern noch hoch und heilig geschworen hatte heute immer weiter verschwammen, mir selbst immer unwichtiger wurden, sodass ich sie irgendwann schlichtweg vergessen würde.

Verdammt! Mit einem Ruck drehte ich mich wieder um, setzte mich auf und schlug in mein Kopfkissen.

Das durfte ich einfach nicht! Ich durfte nicht vergessen was ich mir selber versprochen hatte. Weil es wichtig war, weil es richtig war. Klar, es war nicht einfach, aber das hatte niemals jemand behauptet, am allerwenigsten ich selber.

Warum saß ich dann jedoch gerade hier, eingekuschelt in der leichten Decke, mit gesenktem Kopf und ließ mir meine Haare wieder langsam ins Gesicht fallen? Warum zweifelte ich zum ersten Mal daran, wie lange ich noch würde stark sein und meine Fassade aufrecht erhalten können?

Auch wenn ich am liebsten niemals daran gedacht hätte, musste ich es mir selber eingestehen. Ich wurde langsam schwach und auch wenn es mein sehnlichster Wunsch war dies zu verhindern, konnte ich nichts daran ändern.

Je mehr ich versuchte Aldrin von mir fern zu halten, desto näher kam er mir und je verschlossener ich sein wollte, desto mehr zeigte ich ihm unbewusst wer ich wirklich war.

Wie schon hundert mal spielte sich vor meinem inneren Auge die Szene zwischen ihm und mir ab, die sich noch vor wenigen Stunden in seinem Esszimmer abgespielt hatte: ich, wie ich einsah, dass ich ihm vielleicht etwas von mir zeigen musste, damit er endlich von mir abließ, offensichtlich meine erste Fehlentscheidung. Ich, wie ich begann zu erzählen, die Hoffnungsschimmer in seinen Augen, die zeigten, dass er dachte, dass ich mich ihm vielleicht endlich öffnen würde und die ich einfach nicht hatte übersehen können.Die bewirkt hatten das mir ganz schlecht wurde, weil er doch auf etwas ganz anderes gehofft hatte, als ich ihm dann letztendlich gab.

Aber auch ich, wie ich meine Tränen nicht länger zurückhalten konnte, wie er mich nicht bedrängte, mir einfach zuhörte und ich, wie ich auf einmal in seinen Armen lag. Mein Kopf an seine Schulter gedrückt und wie ich mich so geborgen und beschützt gefühlt hatte, wie seit Dads Tod nicht mehr. Die Minuten in denen ich nicht stark genug gewesen war, diese Nähe zu ihm zu beenden, obwohl ich wusste das ich das musste.

Doch wahrscheinlich am allerschlimmsten, ich, als ich begann an Mum, Marie und Milo zu denken und laut aussprach, was ich immer hatte verhindern wollten.

Ich hatte es nicht gewollt, aber spielte das überhaupt eine Rolle? Ja, er war mir nahe gekommen, aber ich hatte es zugelassen ohne mich überhaupt dagegen zu wehren. Hatte ihn zum ersten mal über meine Mauern blicken lassen die für ihn auf einmal nur noch halb so breit und hoch zu sein schienen. Von denen ich überhaupt nicht mehr wusste... verdammt, von denen ich mir nicht länger sicher war, wie lange ich sie überhaupt noch würde aufrecht erhalten können.

Es war ein Gefühl, dass ich noch niemals zuvor gehabt hatte, ich hatte Angst, Angst davor, nicht länger stark sein zu können, meine Entscheidungen zu brechen. Nicht nur in Bezug auf Aldrin, denn das war eine Sache, viel mehr in Bezug auf meine Familie.

Das ich es eines Tages nicht mehr aushalten würde, dass ich unüberlegter Weise zu ihnen zurückkehren würde. Aber das durfte ich einfach nicht! Ich durfte nicht der Grund sein, weswegen ihre Leben zerstört wurden und Angst davor haben zu müssen, das ich dennoch vielleicht genau das tat schmerzte mehr, als alles andere zuvor.

Erneut fuhr ich mir über mein Gesicht und bemerkte erst jetzt die feuchten Tränenspuren, die sich meine Wangen hinabschlängelten.

Einen Moment verbarg ich mich hinter meinen Händen, versuchte alles um mich herum zu vergessen, auch wenn ich wusste, dass das mein Problem nicht lösen würde.

Wie man es auch drehte und wendete, ich kam hier einfach nicht weiter. Während meine Tränen langsam versiegten hörte ich einen Moment in mich hinein und bemerkte erst jetzt meinen knurrenden Magen und den Hunger, weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.

Ohne lange zu überlegen schälte ich mich aus meiner Decke und schlich zu Tür, an der ich einen Augenblick lauschte, obwohl ich wusste, das Aldrin schon lange in seinem Zimmer sein musste und wahrscheinlich nicht einmal mehr wach war.

Ablenkung, das war es was ich gerade brauchte und was war Bitteschön besser als mitten in der Nacht einmal quer durchs Haus zu schleichen um sich heimlich etwas zu essen zu holen?

Doch soweit kam es gar nicht, denn kaum zwei Sekunden nachdem ich möglichst leise die Tür geöffnet hätte, wäre ich fast über ein Tablett gestolpert, das auf den alten Dielen stand.

Ein Tablett auf dem ein tiefer Teller mit einer großen Portion Nudelauflauf stand, ein schlichtes Glas und eine kleine Karaffe, in der Wasser glitzerte.

Erst zögerte ich noch, doch dann siegte mein Hunger und ich bückte mich und hob Teller, Messer und Gabel auf. Nicht, dass ich keinen Durst gehabt hätte, aber Aldrin sollte nicht denken das ich alles einfach so von ihm entgegennahm und ihn somit schon verziehen hatte. Zudem hatte ich nebenan, in dem Bad das durch eine Tür mit meinem Zimmer verbunden war auch einen Wasserhahn.

Nachdem ich die Tür mehr oder weniger geschickt mit einem dumpfen Knall geschlossen hatte, lehnte ich mich von innen an ihr kühles Holz und lies mich langsam auf den Boden gleiten.

Ohne das ich es bemerkte, schlich sich ein kleines Lächeln auf die Lippen, denn diese Geste war wirklich süß von Aldrin gewesen. Aber noch viel mehr hatte mir seine Entschuldigung vor wenigen Stunden bedeutet, bei der ich ebenfalls genau hier hinter der Tür gesessen hatte, in dem verzweifelten Versuch ihn zu ignorieren.

Nicht weil ich ihm nicht verzeihen konnte, sondern weil ich Zeit brauchte um meine Gedanken zu sortieren.

Weil ich ihn nämlich schon da vergeben hatte, ihm niemals böse gewesen war. Weil ich es gar nicht wirklich schlimm fand, dass er immer weiter nachgebohrt und es mich vielleicht sogar ein bisschen erleichtert hatte mit ihm reden zu können.

Nur hatte ich es mir da noch nicht getraut einzugestehen. Ich war nicht verletzt gewesen, weil ich den Gedanken jemandem zu haben, dem ich alles erzählen konnte, Aldrin alles zu erzählen, gar nicht mehr so abwegig fand, aber ich wusste auch, dass ich genau das nach wie vor mehr als alles andere sollte und dass genau das unter allen Umständen so bleiben musste.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now