46. Kapitel

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Aldrins Sicht:

Es hatte Stunden gedauert. Stunden, bis ich endlich hatte einschlafen können, denn sie hatte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten.

Seit dem Tag am See, überlegte ich, ob ich nicht doch zu voreilig gewesen war. Meine Entscheidung war richtig gewesen, das wusste ich, aber ob sie zu früh gewesen war, das konnte ich auf einmal nicht mehr mit Sicherheit verneinen.

Marleene war mir nicht sauer gewesen und wie ich von Carla gehört hatte, die das Mädchen mit den orang-roten Locken inzwischen ebenfalls zu mögen schien, hatte sie nicht einmal geweint.

Doch genau das war es, was mir Sorgen machte. Wir trafen uns immer noch jeden Tag, unternahmen die verschiedensten Dinge, sogar manchmal mit Carla und sprachen über fast alles.

Aber nur fast. Denn darüber, ihre Familie, deren Tod und meinen Vorschlag sich zu verabschieden hatten wir nicht mehr geredet.

Ich hatte sie nicht zwingen wollen und sie, sie schien das alles nun einfach so gut wie möglich zu verdrängen. Vielleicht klang das zuerst ja auch nach einer guten Idee, bestimmt sogar, aber aus eigener Erfahrung konnte ich definitiv sagen, dass dem nicht so war.

Denn so zerfraß es einen nur von innen, das wusste ich und Marleene dabei zusehen zu müssen, wie ihr genau das passierte, war schlimmer als ich es jemals zugegeben hätte, auch wenn ich wusste das ich nichts dagegen tun konnte.

Somit konnte es noch keine zwanzig Minuten her sein, seitdem ich in einen unruhigen Schlaf gefallen war, so kam es mir zumindest vor als ich das leise Klopfen an meiner Zimmertür hörte.

Das Klopfen, das so leise war, dass die Verlockung es einfach zu überhören, erstaunlich groß war.

Doch da war auch etwas anderes. Ein Gefühl, dass ich vielleicht absolut nicht zuordnen konnte, aber das mich schlussendlich doch dazu brachte mich zu erheben und verschlafen hinüber zur Tür zu gehen.

Während ich nach der metallenen Klinke griff, fuhr ich mir mit meiner rechten Hand noch einmal durch meine verstrubbelten Haare.

Müde öffnete ich die Tür und blinzelte in den schwach von Fackeln erhellten Flur, der dennoch bei weitem heller war als mein dunkles Zimmer.

Doch als ich meinen Blick senkte und in ihr Gesicht blickte, verlor alles um mich herum sofort an Wichtigkeit.

Auf einmal schien es nur noch sie zu geben. Ihre Locken, die heute noch wilder zu sein schienen als sonst und ihre feinen Gesichtszüge, die so viele Gefühle gleichzeitig widerspiegelten, dass ich gar nicht nachfragen musste.

Es war die Angst, diese riesige Angst die ich in ihren weit geöffneten Augen lesen konnte, die mein Herz für eine Sekunde einfrieren ließ, während ich sie in meine Arme zog.

Marleene hielt ganz still, ließ es einfach geschehen und lehnte ihren Kopf an meine Brust, während ich ihr wie so oft über den Rücken fuhr.

Doch heute war etwas anders, das merkte ich, auch wenn ich mich nicht traute nachzufragen. Ich spürte es. Spürte, dass sie einen Entschluss gefasst hatte, einen Entschluss, der sie mehr verängstigte als alles andere auf dieser Welt, aber den sie unumstößlich getroffen hatte.

Mit einem Mal war meine Müdigkeit, meine Schlaflosigkeit, einfach alles war vergessen und das einzige was zählte schien das so zerbrechlich wirkende Mädchen in meinen Armen zu sein.

„Du... du hattest recht..." ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, aber dennoch konnte ich sie viel zu deutlich hören, auch wenn es noch ein paar Sekunden dauerte, bevor ich ihren eigentlichen Sinn verstand.

Langsam löste sie sich von mir und sah mir direkten in meine Augen, während ich in dem grünen, heute ungewohnt stürmischen Ozean der ihren verloren zu gehen schien.

„Aldrin... ich...ich muss...", ihre Stimme brach und ich drückte beschwichtigend ihre Hand, bevor ich hinaus zu ihr auf den Flur trat.

„Ich weiß, komm mit", ohne das sie etwas erwiderte, setzte ich mich in Bewegung, obwohl ich noch immer nicht ganz realisiert hatte was gerade geschah.

Schweigend passierten wir das große Tor zum Garten und traten auf den hellen Kieselweg.

Nur ihre kleine Hand, die in meiner ruhte, während sie mir leise folgte schaffte es mir verständlich zu machen, dass all das hier gerade wirklich passieren musste.

Das Marleene eine Entscheidung getroffen zu haben schien, die ich niemals von ihr erwartet hätte, und dass sie noch tausend mal mutiger und stärker sein musste, als ich es bis jetzt geglaubt hatte.

Viel zu schnell erreichten wir die Bäume, die den See zu allen Seiten umgaben und ich blieb langsam stehen. Das hier war etwas, wobei ihr niemand helfen konnte, etwas das sie alleine tun musste.

Auch wenn sie es zu verbergen versuchte, konnte ich die Angst sehen, die sie umgab.

Aufmunternd drückte ich ihre Hand und sie richtete ihren Blick, den sie zuvor unschlüssig über den kleinen Trampelpfad der zwischen zwei Büschen verschwand hatte gleiten lassen auf mich.

„Ich habe Angst", flüsterte sie und sah mir direkt in meine Augen, während ihr Anblick mir für einen Moment dem Atem verschlug.

„Ich weiß", behutsam ging ich auf sie zu und fasste unter ihr Kinn, sodass sie meinem Blick nicht länger ausweichen konnte.

„Aber das ist okay."

Sie nickte langsam während sie einen Schritt zurücktrat und sich zu den Bäumen drehte.

Vorsichtig ging sie auf sie zu und verriet mir damit, wie schwer es ihr viel nicht zu zögern und sich doch noch einmal umzudrehen.

„Marleene", rief ich ihr leise nach, während sie zwischen den Bäumen verschwand: „Manchmal ist es sogar gut Angst zu haben."

Nur ihr kurzes Innehalten verriet mir, dass sie mich verstanden hatte, bevor sie ganz aus meinem Sichtfeld verschwand.

„Aber...aber ich kenne keinen der so stark ist wie du.", fügte ich in meinen Gedanken hinzu und erkannte in der plötzlich ziemlich erdrückenden Stille der Nacht, das nichts mehr der Wahrheit entsprach als dieser kleine Satz.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now