17. Kapitel

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Marleenes Sicht:

Ein heller Lichtstrahl, der durch meine geschlossenen Augenlider drang, riss mich unsanft aus meinen unruhigen Träumen, von denen ich eine Sekunde später schon nicht mehr sagen konnte, worüber sie überhaupt gehandelt hatten.

Etwas war passiert, dessen war ich mir sicher und so wie ich mich gerade fühlte, war es bestimmt nichts Gutes gewesen, doch um weiter darüber nachzudenken fehlte mir in diesem Moment einfach die Kraft.

Ich ließ meinen Kopf noch tiefer in mein Kissen fallen und genoss für ein paar Sekunden die Ruhe und die Sonne auf meinem Gesicht.

Sonne? Schoss es mir eine Sekunde später durch den Kopf. Hatte ich etwa verschlafen?

Sofort öffnete ich meine Augen und starrte an die weiße Decke, während ich gegen die plötzliche Helligkeit anblinzelte.

Ich musste die beiden kleinen Wecken, ihnen Frühstück machen und sie gleichzeitig antreiben sich wahrscheinlich schneller als sonst anziehen zu müssen.

Wie spät war es überhaupt? Wenn Milo zu spät zum Kindergarten kam war das gerade noch vertretbar, aber mit Maries Klassenlehrerin hatte ich schon öfter über den Beginn der Schulzeiten diskutieren müssen. Dies hatte dann oft zur Folge gehabt, dass ich selber, obwohl unser Unterricht erst eine halbe Stunde später begann zu spät gekommen war.

Schnell strampelte ich die dünne Bettdecke beiseite, die mir gar nicht bekannt vorkam und setzte mich auf um auf dem Wecker auf meinen Nachttisch rechts von mir zu sehen, als ich auf einmal stockte.

Dort wo sonst meine hölzerne, kleine Kommode gestanden hatte, konnte ich jetzt auf einen alten, zugegebenermaßen ziemlich schönen Dielenboden sehen. Aber das war gar nicht das entscheidende, der springende Punkt war viel mehr, dass ich hundertprozentig wusste, dass wir in unserem kleinen Haus nur Parkett und Fliesen hatten.

Hektisch sah ich mich um, in der Hoffnung mich doch zu irren und mein geliebtes Zimmer wieder zu erkennen, aber dieser Raum mit seinen leicht pfirsichfarbenen Wänden, dem großen, runden und mit weißen Blumenranken verzierten Spiegel mir gegenüber und dem schönen, ebenfalls weißen Kleiderschrank in der linken, hinteren Ecke, war mir definitiv fremd.

„Marie", rief ich panisch, um mich zu vergewissern, dass sie nicht hier, sondern sicher bei uns zuhause war.

„Mi...", bevor ich seinen Namen ganz aussprechen konnte, tauchte ein Bild vor meinem inneren Auge auf, das mir einen Schauer über meinen Rücken jagte. Ein Grab, ein Familiengrab, und laut der Inschrift, die ich kein zweites Mal zu lesen brauchte, ihres.

Keine Sekunde später sah ich mich selber auf der Klippe stehen und all die Dinge, die ich in meinem Schlaf verdrängt haben musste, wurden mir erneut bewusst.

Und alles an das ich nun denken konnte war, dass ich in diesem Moment nicht in einem mir fremden Bett, sondern auf einer der Wolken im Himmel sitzen sollte. Das ich von da oben auf meine Familie hinabsehen sollte und mich für sie freuen würde, weil sie durch meinen Tod weiterleben konnten.

Aber das, wurde mir bewusst, konnte ich nicht. Weil ich noch lebte, weil ich immer noch ein Teil ihres Lebens und sie somit noch in Gefahr waren.

Zum ersten Mal drehte ich mich ganz nach links, in der Hoffnung ein Fenster und somit freien Blick auf den Himmel zu finden um klarer denken zu können.

Doch anstatt in das mir bekannte, wunderschöne blau zu blicken, sah ich in die intensivsten bernsteinfarbenen Augen die ich jemals gesehen hatte.

Am liebsten hätte ich vor Schreck laut aufgeschrieben, doch kein Ton kam aus meiner Kehle.

Nach einigen Sekunden löste ich langsam meinen Blick von seinen Augen musterte den Rest seines Gesichtes. Er hatte schöne Wangenknochen, volle Lippen, doch seine blond-braunen Locken stachen mir besonders ins Auge, denn sie kamen mir merkwürdig vertraut vor.

„Na, ausgeschlafen?", seine Stimme klang ganz weich und etwas blitzte in seinen Augen auf, doch ich wagte es nicht es richtig zu deuten. Denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es wirklich Besorgnis war.

Niemand, außer vielleicht meine Familie hatte sich jemals um mich gesorgt und ich hatte immer alles dafür getan, dass es auch so blieb.

„Wer bist du?", meine Stimme klang spitzer als ich es beabsichtigt hatte, doch auch wenn ich meine Aufregung zu verbergen versuchte, wusste ich, dass er sie schon lange enttarnt hatte.

„Aldrin, und du?", er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an und irgendetwas sagte mir, dass er genauso gut wie ich wusste, dass ich nicht auf seine Frage antworten würde.

Doch auch wenn die Tatsache, dass er mich so gut zu kennen schien, immer beunruhigender wurde, fokussierte ich mich auf das wichtige: „Wo bin ich?"

Einen Moment wirkte er wirklich, als würde er überlegen wie er es am besten erklären konnte, bevor er zu einer Antwort ansetzte: „Ich denke, man könnte es mein Haus nennen."

„Und was mache ich hier?"

„Du hattest keinen Ort, an dem du sonst hättest bleiben können."

Weitere Bilder zogen an meinem inneren Auge vorbei. Wie ich nicht mehr alleine am Abgrund stand, wie jemand auf mich zukam und versuchte auf mich einzureden und am Ende sein eigenes Leben riskiert haben musste, um mich zu retten. Wie jemand mich in seine Arme zog und einfach für mich da gewesen war, wie noch nie jemand zuvor.

Vielleicht waren diese Bilder durch meinen damaligen Schleier aus Tränen etwas verschwommen, doch trotzdem erkannte ich die Haare der fremden Person wieder, die blond-braunen Locken.

„Du warst derjenige an der Klippe, oder?"

Aldrin antwortete nicht, doch sein leichtes Nicken war mir mehr als Antwort genug.

Mit einem Mal, wusste ich nicht mehr was ich fühlen sollte. Er hatte mich also beschützt, mich von meinem Sprung abgehalten und war die erste Person in meinem Leben gewesen, die mich nicht alleine gelassen hatte. Aber er hatte mich auch in einem meiner zerbrechlichen Momente gesehen und das war etwas von dem ich mir geschworen hatte, es niemals zuzulassen.

Viel zu groß war die Gefahr, dass man mir zu nahe kommen und mein Geheimnis entdecken konnte, von dem ich mir nach gestern nur noch sicherer war, dass es wirklich niemals jemand herausfinden durfte.

Ich konnte niemanden an mich heranlassen, oder ihm zeigen wie zerbrochen ich wirklich war. Es war vielleicht einsam, doch ich wusste, dass es richtig war.

Somit hätte er mich niemals so sehen dürfen.

Kaum hatte ich diese Entscheidung getroffen, wurde ich mir einer noch ganz anderen Frage bewusst, deren Antwort ich, auch wenn sich ein ungutes Gefühl in mir breit machte, keine Sekunde länger missen konnte.

„Warum konntest du überhaupt da sein?"

Weil ich durch dich leben lernteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt