34. Kapitel

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Marleenes Sicht:

Kaum nachdem ich den ersten Fuß vor die Tür gesetzt hatte, zog ich die mir viel zu große Jeansjacke, die mir Aldrin wie fast alles was ich trug geliehen hatte noch fester um meinen Oberkörper.

Mir war klar, das es dafür eigentlich keinen logischen Grund gab, denn es waren draußen im Schatten nahezu dreißig Grad warm und mit Aldrins langärmeligen, wenn auch dünnen Hemd war mir gewiss nicht kalt.

Doch trotzdem krallte ich meine Finger immer doller in den festen Stoff, weil ich mich so fürchterlich ungeschützt, so fürchterlich allein fühlte, auch wenn Aldrin keine drei Schritte hinter mir ging.

Die letzten Tage war er keine Sekunde von meiner Seite gewichen und auch wenn wir fast nie gesprochen hatten, hatte ich gewusst, das er immer für mich da gewesen war, wie auch jetzt.

Ohne mich auch nur zu ihm zu drehen und ihm die Tränen zu zeigen, die die letzten Tage fast unaufhörlich meine Wangen hinabgeronnen waren, hatte er mich in eine seiner vorsichtigen Umarmungen gezogen und mir stundenlang behutsam über meine Haare oder meinen Rücken gestrichen.

Auch wenn ich vielleicht nicht viel davon mitbekommen hatte, da ich in Gedanken fast immer bei Mum, Milo und Marie gewesen war, hatte ich bemerkt, das er mich jederzeit loslassen würde, wenn ich das wollte.

Er hatte die letzen Tage wirklich versucht mir nicht zu Nahe zu kommen, mich zwar nicht alleine zu lassen, aber mir trotzdem den Abstand zu geben den ich zuvor immer gebraucht hatte. Aldrin hatte es nicht ausgenutzt, das ich keine Kraft mehr hatte, meine Mauern aufrecht zu erhalten und ihn immer wieder von mir wegzustoßen um ihn ja nicht herausfinden zu lassen was mich wirklich bewegte, in mir vorging oder mich ausmachte.

Das Monster das seine eigene Familie getötet hatte, obwohl er das noch immer nicht wusste. Weil er eben gerade nicht nachgefragt, nicht hinter mein Geheimnis hatte kommen wollen.

Er hatte mich getröstet, war immer für mich dagewesen, hatte meine Schwäche aber nicht ausgenutzt um mir näher zu kommen, nur weil ich das zuvor immer sofort abgeblockt hatte. Nur wusste ich jetzt nicht mehr, ob ich all das noch immer wirklich vor ihm verstecken wollte.

Ohne zu wissen was wir eigentlich machen wollten stand ich an der Straße und beobachtete, wie Aldrin sein Garagentor öffnete, in ein schwarzes, funkelndes Auto stieg und langsam nach vorne in die kleine Einfahrt fuhr.

Eigentlich hätte ich nachfragen können, dann hätte er mir bestimmt verraten wohin er mit mir wollte, doch mir hatte einfach die Kraft gefehlt.

Heute Morgen hatte er als ich aufwachte nicht wie die letzten Tage in dem Stuhl neben meinem Bett gesessen, sondern an der Bettkante gestanden, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen und einem einzelnen Satz: „Ich möchte dir etwas zeigen."

Danach hatte er mich nur aus dem Bett ziehen müssen und war langsam mit mir zum Flur gegangen, da ich sowieso in den selben Sachen schlief, die ich auch Tagsüber trug und mir meine Schuhe angezogen, während ich auf der Komode saß.

„Komm schon Marleene!", seine leise Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich ging langsam zum Auto, während Aldrin mir von innen die Beifahrertür öffnete.

Ohne wirklich darüber nachzudenken stieg ich ein, schloss die Tür und schnallte mich an. Die hellen Ledersitze hätten mich sonst bestimmt begeistert, denn ich war mir ziemlich sicher noch nie in einem so teuer eingerichtetem Auto gesessen zu haben, doch stattdessen lehnte ich nur meinen Kopf gegen das kühle Glas der Fensterscheibe.

Eigentlich war ich mir sicher gewesen, das ich die Tränen, von denen ich gedacht hatte, das sie unweigerlich folgen würden, nicht würde zurückhalten können, doch ich saß nur ganz still da, während ich das kleine, nun total zerquetschte Auto wie fast immer vor meinen Augen sah.

Etwas hatte sich verändert. All der Schmerz war mit einem Mal verschwunden und alles was er hinterlassen hatte, war eine gähnende Leere. Es fühlte sich an als wäre ich, als wären all meine Gefühle betäubt worden und normalerweise hätte mir das bestimmt eine riesige Angst gemacht, doch nun starrte ich nur stumm aus dem Beifahrerfester, ohne etwas bestimmtes zu fokussieren.

Auch wenn ich es gar nicht wissen wollte, wurde mir mit einem Mal klar, warum ich Aldrin nicht nach unserem Ziel gefragt hatte: es war mir schlichtweg egal.

Alles war egal. Es war egal wohin er mich bringen würde, egal was uns dort und mir in meinem gesamten Leben vielleicht noch passieren würde, denn eines konnte ich nie wieder rückgängig machen.

Ich hatte sie verloren, alle vier und nichts, nichts und niemand auf dieser Welt würde sie jemals zurückbringen können und all das, all das war nur meinetwegen passiert.

Es war meine Schuld, und das wusste ich. Hätte ich Dads Prophezeiung damals ernst genommen, mich von der Klippe gestürzt als ich die von meinen kleineren Geschwistern und meiner Mutter gesehen hatte, dann würden sie jetzt noch alle leben.

Wie hatte ich auch nur im Ansatz denken können, dass es ausreichen würde aus ihrem Leben zu verschwinden? Sie waren wegen mir gestorben, unabhängig davon ob ich noch bei ihnen gewesen wäre oder nicht, sie waren jetzt Tod weil ich eben nicht gestorben war.

Dieser Gedanke war mit Abstand der schrecklichste der mir jemals in meinem Leben gekommen war, denn er war wahr, doch trotzdem starrte ich noch immer reglos aus dem Fenster während die Minuten immer weiter verstrichen.

Ich nahm kaum war wie wir plötzlich immer langsamer fuhren, war noch immer in meiner eigenen kleinen Welt versunken, in der mit einem Mal eine gewaltige Leere zu herrschen schienen, als wir schließlich vor einem großen Gebäude zum stehen kamen.

Ungewöhnlich interessiert musterte ich die vielen kleinen Türmchen und die Mauern, die weit über mir einen Teil der weiß-goldenen Fassade bildeten und ein Gefühl machte sich in mir breit, das ich so noch nie in meinem Leben gespürt hatte.

Ich fühlte mich zuhause, voll und ganz und nicht wegen der Personen die hier vielleicht leben mochten, sondern wegen des Ortes allein, der ein merkwürdig vertrautes Gefühl in mir auslöste, obwohl ich mir sicher war ihn noch nie gesehen zu haben. Doch ich wusste auch, das dieses Gefühl eindeutig zu spät kam, denn alles, wirklich alles war jetzt zu spät.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now