42. Kapitel

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Marleenes Sicht:

Ich hatte es nicht gewollt, hatte versucht nur dieses eine Mal, nur ein paar Minuten lang stark zu sein, doch noch nicht einmal das hatte ich geschafft.

Denn kaum hatte ich meine Augen geschlossen waren sie gekommen, all die Bilder. Bilder von alltäglichen Momenten und noch gewöhnlicheren Situationen, die ich dennoch niemals wieder würde erleben können.

Nur eine Sache hatten sie alle gemeinsam, eine Sache die nichts und niemand auf dieser Welt wieder würde zurückbringen können.

Drei Personen, drei Personen, die nicht bloß aus meinem Leben verschwunden oder sich von mir abgewandt hatten, nein drei Personen die mir alles bedeutet hatten und es noch immer taten.

Auch wenn sie es niemals wissen würden, es niemals mehr von mir hören würden, weil sie nämlich nicht mehr da waren, weil sie gestorben waren, wegen mir.

Nein, keine Sekunde lang hatte ich die heißen Tränen aufhalten können, die nun meine Wangen hinabrannen und auf das nasse Kissen tropften, auf das ich immer weiter einschlug.

Ich hatte sie verloren, doch das war es nicht was am meisten schmerzte. Denn sie hatten viel mehr verloren als ich. Sie hatten ihre Leben verloren.

Und ich? Ich hatte es gewusst bevor es geschehen war, beide Male. Doch was hatte ich getan? Nichts!

Wäre ich nicht gewesen, würden sie noch leben. Wäre ich an jenem Tag, der mir inzwischen schon vorkam als würde er um Jahre zurücklegen gesprungen, wäre nichts von all dem passiert.

Wie hatte ich auch nur im Ansatz denken können es würde reichen aus ihrem Leben zu verschwinden? Ich hatte nicht nur gesehen, dass sie sterben würden, ich hatte es gespürt!

Gespürt, wie noch nie zuvor bei einer meiner Prophezeiungen. Ich hatte gespürt, dass es etwas mit mir zu tun hatte. Was genau konnte ich nicht sagen, aber das es einfach stimmte, das wusste ich.

Ihr Tod war meine Schuld, allein meine Schuld.

Und jetzt? Jetzt lag ich hier auf meinem Bett und schaffte es nicht einmal für ein paar Sekunden stark zu sein, für sie. Obwohl ich ihnen alles genommen, alles geraubt hatte, konnte ich es nicht.

Panisch sog ich die Luft zwischen meinen hektischen Schluchzern ein, während es sich anfühlte als würde mein Herz zerreißen.

Immer schneller sickerten die Tränen in das Kopfkissen, auf das ich mein Gesicht gelegt hatte und es schien nur noch den Schmerz zu geben. Den Schmerz, die Trauer und die Schuld, drei Gefühle aus denen meine ganze Welt zu bestehen schien.

Eine Hand, die plötzlich über meinen Rücken fuhr ließ mich zusammenzucken und hochfahren. Nicht weit, aber trotzdem hoch genug um Aldrin ins Gesicht zu sehen, der mein Zimmer ganz ohne das ich es bemerkt hatte betreten haben musste.

Durch meinen verschwommenen Tränenschleier sah ich die Besorgnis in seinen Augen aufblitzen, doch binnen einer Sekunde verschwand sie wieder und ich war mir nicht einmal sicher sie wirklich gesehen zu haben.

Ohne das ich mich wehrte, drehte er mich um und zog mich in seine Arme. Aldrin achtete nicht auf die Tränen, die sein dunkelgrünes Shirt durchnässten, sondern legte meinen Kopf ganz sanft an seine Schulter, bevor er mir behutsam über meinen Rücken fuhr.

Doch was er auch versuchte um mich aus dieser schrecklichen Welt zu holen, ich sah sie noch immer vor meinen Augen, meine beiden kleinen Geschwister die ich über alles liebte, aber auch meine Eltern.

„Ich war nicht einmal bei ihrer Beerdigung", schluchzte ich leise in sein T-Shirt während er mich nur noch fester in seine Umarmung zog, aber ich trotzdem das Gefühl hatte mich immer weiter von ihm zu entfernen.

„Ich schaff das nicht mehr Aldrin. Ich... ich kann einfach nicht mehr..."

Er antwortete mir nicht, doch das brauchte er auch gar nicht, denn ich wusste auch so, dass er mich verstanden hatte, denn er hielt mich fest in seinen Armen, bis ich schließlich ganz in die Welt meiner mittlerweile ebenfalls düsteren Träume abdriftete.

Ein sanftes Schaukeln riss mich aus meinen Träumen, von denen ich keine Sekunde später nur noch einzelne, nicht zusammenhängende Bilder vor Augen hatte, die immer weiter zu verschwimmen schienen je mehr ich mich versuchte an sie zu erinnern.

Doch eigentlich brauchte ich das auch gar nicht, denn schon allein das ungute, beklemmende Gefühl, das geblieben war und auch einfach nicht verschwinden wollte war Beweis genug dafür, dass ich eigentlich gar nicht wissen wollte, was mir in meiner Traumwelt wirklich begegnet war.

Erst als ich mir darüber bewusst wurde, schaffte ich es die Gedanken so weit zu verdrängen, dass ich die Sonnenstrahlen bemerkte, die auf meine geschlossenen Augenlider vielen.

Eigentlich nichts besonderes, nur die Tatsache, dass sie sich zu bewegen schienen ließ mich stocken.

Blinzelnd öffnete ich meine Augen einen Spalt breit, nicht weit, aber dennoch breit genug um direkt in Aldrins Gesicht zu sehen.

„Na, aufgewacht?", er versuchte ein Lächeln, doch ich sah, das etwas anders war als bei seinen vorherigen. Weil es nicht echt war und auch wenn er es zu versuchen schien, schaffte er es nicht seine Besorgnis dahinter zu verstecken.

Ein Lichtstrahl der über sein Kopf direkt in mein Gesicht fiel ließ mich die Augen zukneifen.

Noch immer konnte ich absolut nicht zuordnen wo ich mich befand, doch dafür kamen immer weitere Bruchstücke von dem zurück, was unweigerlich hiervor passiert sein musste.

Aldrin, wie er in mein Zimmer kam. Aldrin wie er mich weinen sah und Aldrin wie er mich in seine Arme schloss und mich einfach nur festhielt, während ich das ausgesprochen hatte was mich schon die ganze Zeit über beschäftigte, auch wenn ich es immer zu verdrängen versucht hatte.

Aber ich hatte recht, und das wusste ich. Ich war nicht da gewesen, auf ihrer Beerdigung und auch das würde ich nie wieder ändern können.

Ich sah nach oben, in dem Versuch die weiße Decke irgendeines Zimmers zu sehen, doch stattdessen blickte ich direkt in dichtes grün.

Hektisch blinzelte ich bis die verschwommenen Umrisse, die scheinbar die Sonnenstrahlen zum Großteil abzuhalten schienen eine klare Gestalt annahmen.

Waren das etwa Bäume?

Auf einmal machte alles einen Sinn, das leichte, ständige Schaukeln, das helle Sicht und Aldrins kräftige Arme, die ich erst jetzt unter meinen Kniekehlen und meinem Rücken spürte.

Noch immer konnte ich nicht wirklich verstehen was hier gerade passierte, als Aldrin mit einem Mal stehen blieb.

Verwundert blickte ich zu ihm auf, in sein Gesicht, das nun nicht mehr Besorgnis, sondern etwas ganz anderes zierte. Ich war mir nicht sicher, doch fast hätte ich es als Vorfreude gedeutet, aber worauf?

Bevor ich ihn jedoch fragen konnte was das alles hier bedeuteten sollte nickte er mit dem Kopf nach vorne und ohne lange zu überlegen folgte ich seiner Bewegung und drehte meinen Kopf zur anderen Seite, bevor es mir mit einem Mal den Atem verschlug.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now