44. Kapitel

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Marleenes Sicht:

Eilig blinzelte ich die Tränen weg, die mir schon wieder meine Sicht zu rauben versuchten, während ich mir hektisch über die Wangen fuhr.

Orientierungslos blickte ich mich auf der riesigen Wiese um und musste schließlich doch zugeben, dass ich keinen blassen Schimmer hatte wo ich mich befand.

Der einzige Ort zu dem ich im Moment einen Weg wusste, war der See, der nur ein paar hundert Meter hinter mir lag.

Doch dahin konnte ich ganz bestimmt nicht zurück. Genauer gesagt war er gerade der Platz, an dem ich in diesem Moment am allerwenigsten sein wollte und zudem wusste ich, dass Aldrin dort noch immer auf mich warten würde.

Natürlich, er könnte mir sofort einen Weg zurück zum Schloss zeigen und mich auf mein Zimmer bringen, auf dem ich bis jetzt den Großteil meiner Zeit verbracht hatte.

Aber wenn ich jetzt zurückkommen würde, würde er wissen das er Recht gehabt hatte und das wollte, das konnte ich einfach nicht zugeben.

Würde ich ihm jetzt jedoch in die Augen sehen, die für mich jedes Mal wirkten wie ein bernsteinfarbenes Meer mit funkelnden Sprenkeln, in dessen Tiefen ich ganz langsam verloren ging, dann würde er es bemerken.

Weil er mich inzwischen viel zu gut kannte...

Verdammt, ich ballte meine rechte Hand zu einer Faust während ich eilig einen kleinen Hügel hochlief. Ich hatte gedacht Almelis wäre ein ganzes Reich, mit vielen Häusern und Einwohnern, nur dummer Weise schien es tatsächlich so groß zu sein, dass ich weit und breit niemanden sehen konnte.

Bis jetzt hatte ich mich noch kein einziges Mal umgedreht, denn ich wusste auch so, dass Aldrin mir nicht folgte. Weil er wusste, dass ich jetzt meinen Freiraum brauchte, weil er mich viel besser kannte, als ich es jemals hatte zulassen wollen.

Und weil er das nun jedoch tat, würde er es sehen, sobald ich ihm in seine aufmerksamen Augen sehen würde, er würde begreifen können, dass ich unterbewusst selber wusste, wie wahr seine Worte waren.

Doch das durfte er nicht wissen, denn ich selber versuchte nichts sehnlicher als all seine Erklärungen, all das was er mir heute offenbart hatte zu vergessen, damit ich es nicht einsehen musste.

Niemals, niemals würde ich mich von ihnen verabschieden. Weil es bedeutete, es einzusehen, zu begreifen das ihr Tod wirklich real war und ich sie niemals wieder sehen würde, weil ich sie dann würde gehen lassen müssen und das würde ich nicht schaffen, nicht können.

„Aber haben sie es nicht verdient losgelassen zu werden?", Aldrins Worte schlichen sich immer tiefer in meine Gedanken, ohne das ich es verhindern konnte.

Keine Sekunde hielt ich an um einmal tief durchzuatmen als ich die Kuppe des Hügels erreicht hatte, sondern begann mich keuchend einmal um mich selbst zu drehen.

Zuerst war ich mir nicht sicher, doch als ich meine Augen wegen den hellen Sonnenstrahlen zusammenkniff und mir meine Hand vor meine Stirn hielt, konnte ich sie erkennen. Die weißen, quadratischen Stücke Stoff die an einer Leine in dem leichten Wind beim trocknen hin und her wehten.

Ohne weiter zu überlegen, begann ich los zu laufen, setzte meine Füße immer schneller voreinander während ich den Berg hinabrannte und versuchte die leise Stimme in meinen Kopf zu ignorieren, die mir unaufhörlich zuzuflüstern schienen, dass man nicht vor seinen eigenen Gedanken weglaufen konnte, jedenfalls nicht dauerhaft.

Schnell wurden die Stoffstücke immer größer und schon bald konnte ich die hölzernen, weiß gestrichenen Pfähle erkennen, die die Leine zu halten schienen.

„Hey", hektisch fuhr ich nach rechts herum und blickt in mir nur allzu vertrautes Gesicht.

„Was machst du denn hier?"

Bevor ich Carla, die einen Wäschekorb trug, der voller nasser und ebenfalls weißer Bettlaken zu sein schien antworten konnte, schnappte ich erst ein paar Mal nach Luft.

Dieser Anblick schien ihr als Antwort zu genügen, denn statt weiter nachzuhaken, zog sie bloß ihre linke Augenbraue nach oben und stellte den geflochtenen Korb ab.

„Du kannst mir gerne helfen."

Ich wusste, dass sie das nicht von mir erwartete, sondern es bloß als Gefallen gemeint war um mir die Chance zu geben mal auf andere Gedanken zu kommen.

Vielleicht kannte ich sie noch nicht wirklich gut, aber wir hatten schon ein paar Mal etwas zusammen gemacht und mir unter anderem neue Kleidung gekauft.

Außerdem hatte ich ihr schon oft helfen dürfen und auch wenn ich wusste, dass sie es nicht verstand, hatte sie mir damit sehr geholfen.

„Danke", schnell ging ich zu dem großen Korb, schnappte mir das erste Laken und begann es auszuschlagen, bevor ich es über die Wäscheleine warf.

Seitdem ich nicht mehr zum Kindergarten gegangen war, konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals eine Freundin, geschweige denn eine beste Freundin gehabt zu haben, weil ich niemanden an mich hatte heranlassen können.

Somit hatte ich niemals die Möglichkeit gehabt herauszufinden, was es wirklich bedeutete nicht immer alleine zu sein und jemandem zu haben mit dem man gemeinsam die verrücktesten Momente erleben und über alles Lachen konnte.

Das hier mochte vielleicht noch weit davon entfernt sein und die Umstände anders als ich es mir immer in meinen Träumen ausgemalt hatte, aber auch wenn ich es nicht zugeben würde, bezeichnete ich Carla inzwischen insgeheim als meine Freundin.

„Marleene?", erst ihre Frage schaffte es mich aus meinen Gedanken zu reißen.

„Was denn?", eilig warf ich das Laken das ich noch immer in meinen Händen hielt über die Leine und musste als ich mich umdrehte feststellen, dass der Wäschekorb inzwischen leer war.

„Ich hab dich gefragt, ob du vielleicht noch mit ins Schloss kommen möchtest?"

„Gerne...", ehe ich zu Ende sprechen konnte, hatte sie sich schon mit ihrem linken Arm bei mir eingehakt und zeigte mir den Weg zurück zum Schloss, der gar nicht so weit und verwirrend war, wie ich es gedacht hatte.

Als wir die Wäschekammer erreichten, in der Carla den Korb abstellte, drehte sie sich zu mir während sie mich weiter zog, obwohl ich die Berge an Wäsche, die noch auf uns zu warten schienen, in der hinteren Ecke nur zu gut erkennen konnte.

„Ich habe eine spitzen Idee!", ihre Augen funkelten abenteuerlustig und im Stillen fragte ich mich, ob sie wirklich so gut war.

„Warst du schon mal in der Schlossküche?"

„Nein...", antwortete ich zögerlich, doch sie viel mir schon wieder ins Wort.

„Die ist so riesig, Marleene, das kannst du dir gar nicht vorstellen... und da gibt es so leckere Dinge.", sie leckte sich gedankenverloren über die Lippen, bevor sie wieder nach vorne sah und mich durch die hier ziemlich engen, jedoch noch immer prachtvoll verzierten Gänge zog.

„Sicher, dass wir da überhaupt hindürfen?", fragte ich zögerlich und nur Sekundenbruchteile später, drehte sie sich entrüstet zu mir um.

„Also hör mal, daraus besteht doch gerade der Spaß!", ohne das ich etwas erwiderte zog sie mich bis zu einer großen Tür mit zwei Flügeln.

„Bevor sie diese vorsichtig aufstieß, wandte sie sich grinsend zu mir um: „Keine Angst, Aldrin und ich haben das früher schon immer gemacht."

Und während ich ihr unauffällig und noch immer nicht ganz von ihrer verrückten Idee überzeugt in den unfassbar gut riechenden Raum folgte, schlich sich heimlich ein kleines Lächeln auf meine Lippen.

Weil ich durch dich leben lernteМесто, где живут истории. Откройте их для себя