62. Kapitel:

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Aldrins Sicht:

Wie viel Zeit vergangen war? Ich wusste es nicht.

Nur das sich jede Minute, die ich hier in diesem kleinen Raum, mit den weiß-goldenen Wänden, den goldenen Ledersesseln auf dem roten Teppich und dem kleinen Glastisch mit den verschiedensten Zeitschriften saß, wie mehrere Stunden anfühlte, das konnte ich mit Sicherheit sagen.

An viel konnte ich mich nicht erinnern, denn alles woran ich die ganze Zeit über hatte denken können, war sie selber gewesen.

Nachdem die Sanitäter Marleene weitestmöglich versorgt hatten, war sie auf eine Trage gelegt und nach hier, in unsere Krankenstation gebracht worden.

Danach hatten sich unsere Wege jedoch getrennt, denn auch wenn ich ihr bis dahin auf Schritt und Tritt gefolgt war, hatten mich die Ärzte nicht mit zu ihr ins Behandlungszimmer lassen wollen.

Ich hatte alles versucht, doch sie waren standhaft geblieben und hatten gemeint, dass sie den Platz zum Arbeiten brauchten.

Letztendlich war es dann Aaron gewesen, der mich von der Glastür durch die ich nicht hatte gehen dürfen und die mich somit nun unweigerlich von ihr trennte nach hier verfrachtet hatte.

In eines der kleinen Wartezimmer, die um diese Uhrzeit fast vollkommen leer waren.

Er hatte mich zu dem Sessel geführt auf dem ich nun immer noch saß und sogar angeboten bei mir zu bleiben.

Noch nie hatte ich ihn so erlebt. In keiner Situation an die ich mich erinnern konnte hatte er bis jetzt so unsicher, ja so schuldbewusst gewirkt.

Auch wenn ich es niemals für möglich gehalten hatte, schien er sich selber darüber im Klaren zu sein, was für einen Fehler er begangen hatte.

Doch trotzdem hatte ich es keine fünf Minuten mit ihm in dem mit einem Mal bedrückend engen Raum ausgehalten und ihn schließlich gebeten zu gehen.

Und dieses Mal, dieses eine Mal hatte er wirklich auf mich gehört und war verschwunden ohne noch ein einziges Mal nachzuhaken, ob er nicht doch bleiben sollte.

Nun saß ich hier also, konnte nichts tun als zu warten während ich den Sekundenzeiger der schlichten Uhr an der Wand über der Tür mir gegenüber beobachtete, wie quälend langsam er seine Runden zog.

Mit jeder Minute die verstrich wurde ich unruhiger, nicht sicher ob das nun ein gutes oder schlechtes Zeichen war, dass keiner zu mir kam um über ihren Zustand zu berichten.

Immer wieder vergrub ich meinen Kopf in meinen Händen, fuhr mir durch die Haare, mir nur allzu bewusst, das Marleene in jeder anderen Situation nun nach meinen Händen gegriffen hätte um sie in die ihren zu nehmen und mich von dieser Frisur vernichtenden Geste abzuhalten.

Aber jetzt? Dieses Mal tat sie es nicht. Konnte es gar nicht tun, weil sie nicht bei mir war. Weil sie hier irgendwo in diesem Gebäude lag und um ihr Leben kämpfte, ohne all das was ich ihr noch hatte so oft sagen wollen überhaupt jemals gehört zu haben. Ohne mich.

Verdammt! Ich schlug auf die überraschend harte Lehne des Sessels denn keine Sekunde konnte ich noch länger tatenlos in ihm sitzen und nichts anderes tun als zu hoffen, dass sie es schaffte.

Unruhig sprang ich auf und tigerte vor dem Stuhl auf und ab, während meine nackte Angst immer weiter der puren Wut wich.

Wut, auf Aaron, der sie schon die ganze Zeit gesehen und nur deswegen auf mich gezielt haben musste. Wut auf sie, denn ich war mir hundertprozentig sicher, dass kein anderer so selbstlos versucht hätte mich zu retten.

Doch am allermeisten war ich wütend auf mich selber. Ich hätte sie nur ein paar Stunden zuvor bis zum Ausgang begleiten müssen und sie wäre Aaron niemals begegnet. Hätte sie nur zu fassen bekommen müssen, oder beiseite schubsen, bevor sie sich vor mich geworfen hatte.

Aber ich hatte es nicht. Und warum? Weil ich zu verblüfft gewesen war um zu verstehen was sie versuchte. Weil ich zu langsam gewesen war.

Meine Hände ballten sich von ganz automatisch zu zwei Fäusten, während ich mich wieder zu meinem massiven Sessel umdrehte und ihm einen so heftigen Tritt verpasste, dass er an die Wand hinter ihm flog und zur Seite kippte.

Es war meine Schuld, alles meine Schuld und ich hätte es so einfach verhindern können.

Mit meiner rechten Hand holte ich bereits völlig von meinen Sinnen zum Schlag aus, als ich an ihr plötzlich nach hinten gezogen wurde.

„Es bringt doch nichts, Aldrin", anders als gewöhnlich klang ihre Stimme gar nicht mehr fröhlich, sondern ungewohnt ernst und brüchig.

Langsam ließ ich meinen Arm sinken und Carla löste meine verkrampften Fäuste, bevor ich mich zu ihr umdrehte.

Ich hatte mit vielem gerechnet, aber die pure Verzweiflung die ihren Gesichtszügen abzulesen war und ihre roten Augen, die mir zeigten, dass auch sie bereits geweint hatte, zeigten mir nur noch ein weiteres Mal auf schreckliche Art und Weise, wie real der Albtraum war, den wir alle gerade durchlebten.

Ohne ein Wort zu sagen zog sie mich zu sich, nahm mich einfach in ihre Arme, während sie ihr Gesicht selber in meinem T-Shirt verbarg.

So standen wir also da, uns gegenseitig aneinander klammernd als wäre die andere Person das Einzige was uns noch halten würde und auf eine gewisse Art und Weise war mir sogar bewusst, dass dies stimmte, denn auch das letzte bisschen meiner Kraft war verschwunden, nachdem ich in ihr ängstliches Gesicht geblickt hatte.

Erst als ich eine unscheinbare Bewegung hinter ihr bemerkte fuhren wir wieder auseinander und sie drehte sich zu dem Arzt um, der soeben unser Wartezimmer betreten hatte, bevor ich auch nur meinen Mund öffnen konnte um die Frage zu stellen, die mir mehr als alles andere auf der Seele brannte.

Doch das musste ich gar nicht, denn unsere fragenden Gesichter schienen ihm zu reichen um zu verstehen, dass wir nun endlich die Antworten bekommen wollten, auf die wir schon seit Stunden warteten.

„Also", begann er und sah noch einmal auf ein Klemmbrett mit den verschiedensten Zetteln, dass er in seiner rechten Hand hielt: „Die Operation war sehr erfolgreich, den wir konnten sowohl die Kugel entfernen als auch alle erkennbaren Blutungen stoppen..."

Ohne ihm weiter zuzuhören glitt mein Blick zu Carla, die genauso hoffnungsvoll wie ich mich fühlte zu mir blickte.

„Aber...", das kurze stocken ließ mich zusammenzucken, denn mit einem Mal wurde mir bewusst, dass der Arzt noch immer vor uns stand und nach den richtigen Worten zu suchen schien: „Aber sie hat sehr viel Blut verloren und ihre Verletzungen waren leider schwerwiegender als wir es zuerst vermutet hatten. Wir haben alles getan was wir konnten..."

Alles schien seine Bedeutung zu verlieren, während er betreten auf den Boden blickte und das aussprach, wovor ich mich am allermeisten gefürchtet hatte: „Nun liegt es an ihr. Doch falls, falls... sie sollten die Chance nutzen um sich von ihr zu verabschieden, falls sie später keine mehr dazu bekommen sollten."

Während seine Worte, deren Bedeutung ich noch immer nicht ganz verstanden hatte, oder es schlichtweg einfach nicht konnte in meinem Kopf nachhalten war die Hoffnung, von der ich mir vor zwei Sekunden noch getraut hatte sie zumindest zaghaft zu verspüren mit einem Mal wieder wie weggeblasen, während mich die pure Verzweiflung immer weiter übermannte.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now