15. Kapitel

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Marleenes Sicht:

Langsam trat ich noch einen zögerlichen Schritt nach vorne und überwand so auch den letzten halben Meter, der mich noch von der Spitze der Klippe trennte.

Ja, etliche Male, hatte ich schon auf dem großen Felsvorsprung gesessen und auf dieses kleine Plateau gestarrt, auf dem ich nun zum ersten Mal stand. Denn ich hatte es gewusst. Gewusst, dass es damals genau dort passiert war, dass dies die Stelle war an der er gestürzt war und nur allzu oft hatte ich mit dem Gedanken gespielt ihm zu folgen.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich dies jedoch noch nicht gekonnt, weil ich sonst Milo, Marie und Mom hätte im Stich lassen müssen und niemals, niemals würde ich das freiwillig tun.

Doch jetzt? Vorsichtig beugte ich mich nach vorne und sah in die Tiefe hinab. Den Boden, auf dem ich landen würde, konnte ich nicht erkennen, denn zahlreiche Baumkronen versteckten ihn vor mir, aber mir war bewusst, dass es definitiv tief genug sein würde.

Tief genug um meine Familie zu beschützen, ein für alle Mal von demjenigen zu befreien, der ihre Leben gefährdete und ihnen schon viel zu viel genommen hatte. Also tief genug um meinem Leben hier und jetzt ein Ende zu setzen.

Unaufhaltsam rannen die Tränen meine Wangen hinab und ich versuchte nicht einmal sie zurückzudrängen. Es gab niemanden, dem ich noch länger meine Stärke beweisen musste, nicht hier und auch nicht mehr irgendwo sonst, denn wenn sie mich das nächste Mal sehen würden, würde ich mich nicht mehr vor ihnen rechtfertigen müssen.

Doch auch wenn ich es mir schönzureden versuchte, wusste ich, dass es nicht daran lag. Nein, ich hatte keine Angst vor dem Tod, vor meinem eigenen zumindest nicht mehr.

Eigentlich hatte ich es mir sogar ziemlich einfach vorgestellt, gedacht, dass ich mich nur so bei meinem Dad entschuldigen konnte und vielleicht endlich frei von dem sein konnte, was ich verzweifelt vor allen zu verstecken versuchte.

Aber jetzt stand ich hier und zögerte. Zögerte, weil ich das Gefühl hatte, das mich gerade etwas innerlich zerriss und mir das nahm, was mir alles bedeutete.

Dieses mal jedoch, würde ich es nicht verhindern können. Es stand fest, unweigerlich. Ich würde keinen von ihnen je wiedersehen, weder Milo noch Marie noch ein einziges mal in meine Arme schließen und meiner Mutter sagen können, wie sehr ich sie für die Stärke bewunderte, die ich niemals hatte. Wie toll sie alles meisterte und wie sehr ich sie alle drei liebte.

Wenn ich das jetzt tat, würde ich sie nie wieder sehen können und das war das, was ich schon immer am meisten hatte verhindern wollen. Schon allein bei der Vorstellung einen von ihnen verlieren zu können war mir immer schlecht geworden, doch jetzt verlor ich sie alle.

Der Wald unter mir verschwamm und nur unscharf nahm ich war wie ein paar kleine Kiesel in die Tiefe fielen, als ich mein Gewicht nach vorne verlagerte.

Denn auch wenn ich sie niemals wieder würde sehen können, würde ich springen, ich musste einfach, für sie.

Besser ich verlor sie so, als wenn sich die Vision bewahrheiten würde und sie sterben mussten, wieder weil ich einen Fehler begehen würde, von dem ich jetzt noch nichts wusste. Doch ich hatte schon viel zu viele, viel zu schlimme gemacht.

Mit zitternden Beinen zwang ich mich noch einen Schritt zu gehen um ganz bis zur Spitze zu gelangen und blickte ein letztes mal in den Himmel.

Obwohl ich nur den groben Umriss der hellen Sonne und der einzelnen Wolken erkennen würde, war es für mich ein wunderschöner Anblick, auch wenn ich wusste, dass ich ihn zum letzten mal sehen würde.

Langsam streckte ich meine Arme aus und während ich meinen Blick wieder nach unten senkte, tat es mir auf einmal unglaublich leid. Unglaublich leid für meine Mom, die neben ihrem Mann nun auch noch ihr ältestes Kind verlieren und für meine kleinen Geschwister, die nun schon zum zweiten Mal in so kurzer Zeit mit dem Tod konfrontiert werden würden.

Während ich mich behutsam nach vorne lehnte hoffte ich, dass sie mich nicht allzu sehr vermissen würden und bereute, weil ich ihnen wahrscheinlich nie die große Schwester, oder Tochter gewesen war, die sie sich immer gewünscht hatten und sie nun so sehr verletzen würde.

„Halt", ein lauter Schrei ließ mich aufschrecken und zusammenzucken. Mit einem mal bröckelte der Stein unter meinem linkem Fuß und viel in die Tiefe, während ich ebenfalls mein Gleichgewicht verlor.

Hektisch ruderte ich mit meinen Armen und starrte den hellen Steinen zwei Sekunden gefährlich weit nach vorne gelehnt nach, bevor ich es schaffte, wieder halt zu finden und zwei Schritte zurückzuspringen.

Ohne zu wissen ob ich mich verhört hatte, verharrte ich so, bis ich leise Schritte hinter mir wahrnahm.

Schnell wischte ich mir über mein Gesicht, obwohl ich wusste, das es überhaupt nichts brachte und drehte mich um.

Keine fünf Meter von mir entfernt stand ein Junge, mit blond-braunen Haaren. Sein Gesicht konnte ich durch meine Tränen hindurch nicht erkennen, doch seine vermutlich hübschen Gesichtszüge strahlten Besorgnis aus.

Einen Moment lang sagte keiner von uns beiden etwas und ich machte mich schon darauf gefasst jetzt zu hören zu bekommen, wie riskant das gerade gewesen war, aber er musterte mich nur weiterhin aufmerksam.

Eigentlich war ich mir ziemlich sicher, ihn noch nie gesehen zu haben, doch trotzdem kam mir diese Situation seltsam vertraut vor.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.", fing er leise an, doch sofort zog ich mich wieder in meinen Schutzpanzer zurück: „Ich wüsste nicht, was dich das angeht!"

Erneut versuchte ich meine Tränen wegzuwischen, doch sie wollten einfach nicht aufhören immer weiter über meine Wangen zu rollen.

„Du hast recht, es geht mich nichts an."

Von seiner Antwort geplättet sah ich ihn nur stumm an und schon sprach er weiter: „Aber ich kann auch nicht nur dabei zusehen, wie du..."

„Nein...", meine ungewöhnlich hohe Stimme zitterte und brach, doch es war mir egal: „Du verstehst das nicht!"

„Was denn?"

„Nein!", hektisch fuhr ich mir über mein Gesicht und konnte mein Schluchzen nicht länger unterdrücken.

Zögerlich trat er einen Schritt auf mich zu, doch als ich zurückwich blieb er sofort stehen und hob beschwichtigend seine Hände.

„Weißt du... ich muss das hier tun!"

„Warum?"

„Ich... ich muss...", entschlossen drehte ich mich wieder um, denn ich schaffte es keine Sekunde länger Stark zu bleiben, doch durfte es ihm nicht anvertrauen. Niemals würde ich es jemandem anvertrauen. Mein Geheimnis würde ich mit ins Grab nehmen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Tränen tropften auf meine zitternden Hände und wackelig ging ich langsam wieder bis zum Abgrund.

Mein Herz schlug so laut, dass das Blut in meinen Ohren rauschte und nur ganz undeutlich hörte ich ihn von hinten panisch nach mir rufen.

Doch es war zu spät. Langsam breitete ich erneut meine Arme aus und schlug meine Augen zu, bevor ich mich nach vorne fallen ließ.

Die Welt begann sich um mich herum zu drehen und ich war der festen Überzeugung, dass in wenigen Sekunden endgültig alles vorbeisein würde.

Das einzige an das ich in diesem Moment denken konnte, waren Milo und Marie und wie sehr ich als große Schwester für sie versagt hatte, doch auch die Gewissheit, dass die beiden und Mom überleben würden, auch wenn ich es nicht mehr miterleben würde.

Ein kleines Lächeln stahl sich zwischen all den Tränen auf meine Lippen, denn mir wurde bewusst, dass sie jetzt wenigstens die Chance auf das Leben hatten, das sie verdienten und das auch ich mir immer gewünscht, aber niemals bekommen hatte, als sich mit einem Mal zwei starke Arme um meine Taille schlossen.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now