16. Kapitel

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Aldrins Sicht:

Ohne wirklich zu verstehen was gerade geschah, sah ich wie sie erneut ihre Arme ausbreitete und sich langsam nach vorne beugte.

Erst eine Sekunde später realisierte ich, dass dies nicht bloß ein Traum war, sondern gerade wirklich vor meinen Augen geschah. Das sie nicht länger zögerte, sondern ihre Entscheidung getroffen hatte.

Doch das konnte ich einfach nicht zulassen und so traf ich auch meine bevor ich die zwei Meter die uns noch voneinander trennten überwand, während sie immer weiter nach vorne fiel.

Ihre Füße lösten sich von der Spitze der Klippe und auch wenn ich wusste wie gefährlich das war, zögerte ich nicht länger, denn dazu fehlte mir definitiv die Zeit.

Vorsichtig schlang ich meine Arme um ihre Taille und konnte mit einem Mal die Wärme spüren, die ihr Körper ausstrahlte. Mir war bewusst wie zerbrechlich sie war und ich hatte Angst sie zu verletzten, doch trotzdem verstärkte ich meinen Griff und lehnte mich nach hinten.

Für eine schrecklich lange Sekunde schienen wir in unserer Position zu verharren und auch wenn ich es nicht wollte, glitt mein Blick nach unten.

Die grünen Kronen der Bäume tief unter uns waren so weit entfernt, dass sie wie ein einziges Blätterdach wirkten und ich wollte mir nicht einmal vorstellen ob sie es überhaupt ansatzweise schaffen würden unseren Fall zu bremsen.

Angst vor dem, was jetzt vielleicht gleich Folgen würde durchflutete meine Adern und trotzdem wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte und bereute es nicht.

Langsam begann sich unsere Welt zu drehen und ich spürte wie ich sie noch fester an mich drückte und sich alles in mir verspannte, während ich auf den viel zu tiefen Fall wartete, bevor ich endlich realisierte, dass es ihn gar nicht geben würde. Oder zumindest nicht so wie ich es erwartet hatte.

Unsanft fielen wir beide nach hinten auf den harten Stein und obwohl mein Kopf hart aufschlug, weil ich versuchte sie so gut wie möglich vor dem Aufprall zu schützen, durchfuhr mich eine Welle von Erleichterung.

Regungslos blieb ich liegen und spürte das schmerzhafte Pochen in meinem Hinterkopf, das mir in diesem Moment jedoch so unwichtig zu sein schien, wie niemals zuvor.

Ich hatte es tatsächlich geschafft, wir hatten es geschafft, noch immer traute ich mich nicht wirklich daran zu glauben, aus Angst mich doch geirrt zu haben.

Erst als sie sich begann zu bewegen und versuchte meinen festen Griff zu lockern, konnte ich es wirklich realisieren.

Noch immer vollkommen geschockt, nahm ich tatsächlich meine Arme von ihrer Taille und erkannte erst als sie sich bereits neben mir befand und hastig versuchte wieder aufzustehen, was für ein fataler Fehler dies gewesen war.

Den Schmerz ignorierend, erhob ich mich fast so schnell wie sie und schaffte es gerade noch rechtzeitig sie wieder festzuhalten, bevor sie wieder zum Klippenende stürmen konnte.

„Lass mich los!", vergeblich zog sie an meinen Handgelenken, doch anstatt ihrer Aufforderung folge zu leisten, taumelte ich mit ihr langsam weiter nach hinten, immer weiter von dem Abgrund weg.

Sie fing an um sich zu schlagen und auch wenn sie mich dabei mehrmals am Oberarm traf, begann ich ihre Willensstärke zu bewundern.

„Du kannst mich nicht aufhalten!", sie trat mir fest auf den Fuß und ich sog scharf die Luft ein, doch gab trotzdem nicht nach.

Noch immer standen wir auf dem kleinen Plateau, keine drei Meter von seinem jähen Ende entfernt, aber ich traute mich nicht diesen Abstand weiter zu vergrößern, weil es hinter mir nun steil bergab ging. Und die Gefahr mit ihr in meinen Armen auf dem schmalem Pfad, der zum Rest des Felsens führte auszurutschen und doch noch in die Tiefe zu stürzen schien mir zu groß.

„Du... du darfst mich einfach nicht aufhalten!", schrie sie, doch wurde mit jedem Wort leiser. Noch immer hielt ich sie an ihrer Taille fest, doch ihre Schläge wurden immer weicher.

„Ich...ich muss das einfach tun...", ihre Stimme war kaum noch ein Flüstern und ihre Versuche sich von mir loszureißen erstarben endgültig.

„Und warum?", ich beugte mich zu ihr hinunter und bemerkte dabei ihren leichten Duft nach Pfirsich Shampoo, Frühlingsblumen und der Frische des mir nur allzu vertrauten Waldes.

Ich weiß gar nicht was ich erwartet hatte. Wahrscheinlich, dass sie nun erneut versuchen würde mich wegzustoßen um mir auch nicht nur ein kleines bisschen zu zeigen was wirklich in ihr vorging, oder dass sie sich mir tatsächlich anvertrauen würde. Doch ihr leises Schluchzen, das keine Sekunde später erklang und das nicht nur total verzweifelt und hilflos, sondern vor allem auch so unendlich einsam wirkte, tat selbst mir im Herzen weh.

Ohne weiter darüber nachzudenken, löste ich meinen Griff und drehte sie vorsichtig zu mir. Die Tränen, die sie nun nicht länger zu verstecken versuchte glitzerten, während sie ihre Wangen hinab rannen und behutsam schloss ich sie in meine Arme.

Dieses Mal stellte ich keine Fragen, strich ihr nur über den Rücken und versuchte ihr wenigstens ansatzweise das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht alleine war.

Als ihre Beine nachgaben, hielt ich sie und zusammen fielen wir auf den Boden, wobei ihr ihren Aufprall abfing, obwohl sie es nicht einmal bemerkte.

Noch immer wusste ich nicht, was ihre Gründe hierfür waren, oder geschweige denn woher diese zentnerschwere Last stammen konnte, die sie immer mit sich herumzuschleppen schien, aber das brauchte ich jetzt auch gar nicht.

Denn ich merkte auch so, dass das, was sie bis jetzt immer zum weiterkämpfen bewegt hatte, soeben aus ihrem Leben verschwunden sein musste. Das sie ganz alleine war, mit den Ruinen ihres alten Lebens und nicht mehr die Kraft besaß, diese wie so oft davor wieder aufzubauen. Das ihre sowieso schon kaputte Welt noch weiter zerbrochen war und es fast nichts mehr zu geben schien, was nicht schon komplett zerstört worden war.

„Ich...", schniefte sie leise an meine Schulter und ich strich ihr behutsam über ihre Korkenzieherlocken, was sie jedoch nicht wirklich zu bemerken schien: „Ich musste das doch machen..."

„Warum?", sie schien so sehr in ihren eigenen, schmerzhaften Gedanken gefangen, dass sie mich gar nicht wahrnahm.

„Ich muss doch weg von hier...", ihr herzzerreißendes Schluchzen jagte mir einen eiskalten Schauer über zu meinen Rücken und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich noch nicht einmal ansatzweise verstand, wie sehr sie litt und welch schlimme Dinge sie bereits erlebt haben musste.

„Ich muss... muss sie beschützen.", wimmerte sie und wenn es etwas gegeben hätte, womit ich ihr hätte helfen können, hätte ich es getan. Doch die Realität war nicht immer so schön wie die ganzen Filme es versprachen und so zog ich sie nur noch enger in meine Arme, was sie ohne sich zu wehren geschehen ließ und mir somit nur noch mehr zeigte, wie viel ihrer Welt wirklich eingestürzt sein musste.

Ihr Kopf ruhte auf meiner Schulter und ganz ruhig verharrten wir so, während ihr Schluchzen irgendwann langsam immer leiser wurde.

„Ich muss weg...", flüsterte sie mit zitternder Stimme und behutsam strich ihr ihr über den Rücken, bis ihre Tränen endgültig versiegt waren.

Trotzdem traute ich mich noch immer nicht mich zu bewegen, denn ich wusste, dass sie inzwischen vollkommen fertig eingeschlafen war.

Noch nie hatte ich jemanden kennengelernt der so verzweifelt wirkte und auch wenn ich noch nicht einmal ihren Namen kannte, wusste ich, dass sie alleine, dass sie einsam und hilflos war.

Das sie anscheinend jemanden beschützen wollte und deshalb von hier verschwinden musste und das sie niemanden mehr hatte an den sie sich wenden konnte, geschweige denn einen Ort zum leben kannte.

Und während sie also unruhig in meinen Armen schlief, erhob ich mich langsam mit ihr.

Denn das Mädchen mit den orange-roten Locken und den schönsten grünen Augen, die ich jemals gesehen hatte, hatte definitiv schon so viel Leid in ihrem kurzem Leben erfahren, dass es sich die meisten noch nicht einmal vorstellen konnten.

Und deshalb wollte ich ihr das Strahlen, dass in ihrer Welt aus Schmerz und Einsamkeit schon lange verloren gegangen sein musste, wiederschenken.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now