13. Kapitel

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Marleenes Sicht:

„Aber halt dich gut fest, ja?", fragte ich, während mein kleiner Bruder auf das für ihn viel zu große Fahrrad kletterte, welches dabei bedenklich schwankte.

Erst als er sich auf den alten, schwarzen Sattel gesetzt hatte und sich nach vorne beugte um an den Lenker zu greifen, drehte ich mich noch einmal um und winkte Marie hinterher, die mittlerweile schon bei ihren Freunden stand und mich gar nicht mehr zu bemerken schien.

„Können wir jetzt endlich los?", quengelte Milo und lachend strich ich ihm noch einmal über seine Haare, bevor ich mich in Bewegung setzte.

„Warum hast du es denn heute so eilig?"

„Elias hat heute Geburtstag und ich möchte ihm unbedingt als erstes gratulieren."

Schmunzelnd musste ich an den kleinen braunhaarigen Jungen denken, der schon seit der Krippe Milos bester Freund war und der so oft bei uns war, dass man schon fast sagen konnte, dass er zu Hälfte bei uns wohnte.

„Na wenn das so ist!", ich fing an zu joggen und schob das alte Fahrrad immer schneller neben mir her. Milo quietschte vergnügt und auch wenn ich jetzt schon vollkommen außer Atem war, rannte ich immer weiter, weil ich spürte wie viel Spaß es ihm machte.

„Angekommen", keuchte ich als ich keine zehn Minuten später langsam vor der Eingangstür seines Kindergartens stehen blieb.

Eilig sprang Milo auf die roten Pflastersteine und wollte schon zu der blauen Glastür rennen, als ich ihn noch einmal zurückrief: „Hast du nicht etwas vergessen?"

Die Ungeduld, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, sobald er sich umgedreht hatte, ließ ihn viel zu erwachsen für einen fünfjährigen aussehen und nur mit viel Mühe schaffte ich es mein Lächeln zu unterdrücken.

„Hier", ich warf ihm seinen geliebten Tigerrucksack zu, den er tatsächlich auffing und hatte keine Chance mehr ihn zu fragen, ob ich wirklich nicht wie sonst immer mit reinkommen sollte, denn er war schon zwischen all den Müttern und anderen Kindern verschwunden.

Trotzdem wartete ich bis ich sah wie er die schwere Eingangstür aufzog und in den langen Flur des Gebäudes trat, und wollte mich erst als ich mich vergewissert hatte, das er wohlbehalten in seiner Gruppe angekommen war, umdrehen.

Doch bevor ich auch nur mein Fahrrad wenden konnte, verschwamm meine Sicht und etwas zog mich weg von diesem Ort, weg von all den Menschen, weg von Milo, dessen Zukunft ich wohl gleich wie so oft zuvor sehen würde.

Aber heute war etwas entscheidendes anders. Meine Sicht hatte sich noch nicht einmal gelichtet, als mich ein ungutes Gefühl beschlich. Ohne das ich es verhindern konnte fing ich an zu zittern, denn die ungute Vorahnung, war binnen Sekunden Angst gewichen. Einer kalten, nackten und vor allem grausamen Angst.

Langsam verzogen sich die dichten, weißen Nebelschwaden und auch wenn ich am liebsten meine Augen zugekniffen und die Hände vor mein Gesicht geschlagen hätte um das was jetzt kommen würde nicht miterleben zu müssen, begann ich mich vorsichtig umzusehen.

Anscheinend befand ich mich in einem großen Garten, denn egal in welche Richtung ich auch sah, überall bedeckte hohes, aber sehr gut gepflegtes Gras den Boden. Vereinzelt standen Bäume auf dem verlassenen Grundstück und erst jetzt bemerkte ich den hellen Kiesweg vor mir.

Zögerlich fing ich an ihm zu folgen und stieg einen kleinen Hügel hinauf, von dessen Spitze aus man das restliche Gelände betrachten konnte.

Doch auch wenn die Aussicht wunderschön war, stellten sich alle meine kleine Nackenhaare auf, als ich die vielen rechteckigen oder quadratischen Steine entdeckte, die den Rasen in alle Richtungen säumten. Grabsteine.

Ein eiskalter Schauer fuhr meinen Rücken hinab als ich mich langsam wieder in Bewegung setzte, obwohl ich am liebsten irgendwo in einer Ecke zusammengesackt wäre, um nicht das sehen zu müssen, was jetzt unweigerlich kommen würde. Von dem ich noch keine Ahnung hatte, aber das mich auch schon jetzt in pure Panik versetzte.

Vorsichtig schritt ich an den Grabsteinen links und rechts von mir vorbei und las die vielen mir unbekannten Namen, während es mich immer weiter nach vorne zu ziehen schien.

Weiter, direkt bis vor den schlichtesten Stein, den es hier auf dem Friedhof gab und dessen Inschrift ich nicht einmal lesen musste um zu wissen wer hier ruhte.

Ich schaffte es nicht mehr meine Tränen zurückzuhalten und ließ sie stumm mein Gesicht hinab rennen, während ich mich niederkniete.

Seit seiner Beerdigung war ich kein einziges Mal mehr hier gewesen, weil ich es einfach nicht ausgehalten hätte. Weil ich nicht verstehen wollte, das dieses kleine Grab alles war, was er jetzt noch hatte. Weil er nur wegen mir hier war.

Mit vor Tränen verschwommener Sicht blickte ich auf und erkannte erst jetzt, das etwas anders war. Die vielen Blumen, die sonst immer zwischen den zwei kleinen Rosenbüschen gelegen hatten, waren alle vertrocknet.

Vielleicht hatte ich ihn hier nie besucht, aber meine Mom war beinahe jeden Tag gekommen und hatte ihm einen Strauß hingelegt. Aber jetzt lagen hier nur noch ein paar einzelne, schon vollkommen verwelkte und zeugten davon, dass wir ihn noch immer liebten und niemals vergessen würden.

Verwundert fixierte ich die mir viel zu vertraute, schlichte Schrift auf dem Stein und las sie wie schon viel zu oft zuvor, als ich auf einmal bemerkte, dass in dem braun marmorierten Stein nun etwas ganz anderes stand: Hier ruhen Nathanial und Ellie Moore und ihre beiden kleinen Sonnenscheine, Milo und Marie.

Einen Moment verstand ich gar nicht was ich soeben gelesen hatte, oder wollte es nicht verstehen, doch dann setzte die viel zu schmerzhafte Erkenntnis ein.

Langsam sackte ich zusammen und bemerkte gar nicht wie der altbekannte Nebel mich wieder einhüllte und ich wenige Sekunden wieder vor dem Kindergarten stand.

Schnell wandte ich mich von den Müttern ab, die mich schon besorgt musterten, obwohl ich es gar nicht wahrnahm und schwang mich ungeschickt auf mein Fahrrad.

Nur an eines konnte ich in diesem Moment denken: das alles meine Schuld sein würde.

Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen, doch ich wusste, dass ich meine Zukunft selber noch nie hatte sehen können, das ich in den Visionen noch niemals vorgekommen war, doch trotzdem eine Rolle in den Leben der anderen gespielt hatte.

Außerdem war da dieses Gefühl. Dieses Gefühl, dass damals, als ich den Tod meines Vaters gesehen hatte genau das Gleiche gewesen war, das mir einfach sagte, dass alles nur wegen mir passieren würde.

Und ich brauchte keine anderen Beweise mehr, nein ich hatte einmal den Fehler gemacht, diesen Visionen keinen glauben zu schenken und ich würde ihn nicht noch einmal begehen, dafür wäre der Preis viel, viel zu hoch.

Schluchzend fuhr ich über die Straße und hörte die Autos schockiert und wütend Hupen, da sie gerade noch rechtzeitig hatten bremsen könnten.

Doch in dieser einen Sekunde war es mir egaler gewesen als jemals zuvor, denn ich konnte nur an sie denken, an Milo, Marie und Mom, die drei, die mir einfach alles bedeuteten und die ich in naher Zukunft verlieren würde, obwohl sie den Tod mit abstand am wenigsten verdient hatten.

Wäre diese Vision für mich bestimmt, dagegen würde ich wohl kaum etwas sagen können, aber sie? Nein, das war einfach nicht fair.

Und auf einmal wusste ich, dass es nur eine Sache gab die ich tun konnte um sie vor ihrem eigenem Schicksal zu retten, auch wenn ich das dann nicht mehr würde miterleben können.

Weil ich durch dich leben lernteWhere stories live. Discover now