Aber das Komischste kommt noch: ich hab's genossen. Ich hab es genossen, als er mich geküsst hat. Was ist nur los mit mir? Er ist mit Leah zusammen, meiner besten Freundin! Wieso also? Wieso mochte ich den Kuss?

Mir ist klar, dass ich nie 'brüderliche' Gefühle für ihn haben werde, denn er ist ja nicht mal mein richtiger Bruder. Ich kenne ihn kaum! Aber was ist, wenn ich plötzlich andere Gefühle für ihn habe? Kann das sein? Ich will es nicht. Schon allein wegen Leah! Sie mag ihn, sie ist in ihn verliebt. Und Damian mag sie auch (oder?), also ist es schon beschlossene Sache, dass ich ihn nicht mögen kann ...  ihn nicht mögen sollte. Außerdem ist es total peinlich. Nicht, weil er mein Stiefbruder ist. Sondern eher, weil ich mir irgendwie Hoffnungen mache. Und das ist total schwachsinnig. Ich meine, ich bin ich. Fett und hässlich. Und er ist er.

Wer will schon mit mir zusammen sein? Wer wird mich schon je mögen? Richtig; niemand.

Wahrscheinlich bilde ich mir nur Sachen ein, die ich gern sehen würde, so schwer es auch ist, es zuzugeben. Zuzugeben, dass ich ihn mag.

Aber ich kann ihn nicht mögen, er ist mein Stiefbruder, der Freund meiner Freundin, der Typ, der direkt im Zimmer nebenan schläft. Ich kann nicht in ihn verknallt sein, das ist schwachsinnig. Einfach nur absurd.

Ich legte den Schift beiseite und schaute auf das Geschriebene hinunter. Eine ganze Seite hab ich voll geschrieben - und ich fühlte mich tatsächlich ein wenig besser. Ich legte das Büchlein tief in meine Schublade und fuhr dann meinen alten Laptop hoch. Es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis er dann schließlich an war, aber dafür öffneten sich diesmal keine ekligen Pop-Ups, als ich den Browser öffnete. Als erstes ging ich auf Youtube und klickte irgendein Musikvideo an, bevor ich einen weiteren Tab öffnete und Bournemouth eingab. Sofort erschienen unzählige Bilder von überfüllten, aber wunderschönen Stränden, dessen Wasser hellblau und glasklar war. Ich hoffte nur, dass wenn wir in Bournemouth waren, es nicht so extrem überfüllt ist, wie auf den Bildern. Auf manchen Abbildungen schienen die Menschen kein Fuß vor den anderen setzten zu können. Irgendwie erinnerte mich die Menschenmasse an den Winterschlussverkauf letztes Jahres von Leahs Lieblingsboutique, wo alles zu 50 % reduziert war. Wäre Leah nicht so verbissen und hartnäckig gewesen und hätte ich mich nicht ebenso verbissen an sie geklammert, wären wir am Eingang mit Sicherheit zertrappelt worden.

Nun gab ich Bournemouth Stadt ein und wieder wurden Bilder eingebildet, die aber größtenteils den Strand von Bournemouth zeigte. Der Rest zeigte eine Innenstadt mit alten Häusern und eine Passage, wo man wahrscheinlich einkaufen gehen konnte. Es sah gar nicht mal so schlecht aus.

***

Ich wachte auf, als irgendwer unglaublich schrill schrie. Ich fuhr hoch, aber da war der Schrei auch schon verstummt. Sekunden später ging meine Zimmertür auf und ich knipste meine kleine Lampe neben dem Bett an, um zusehen, wer es war. Es war Damian.

"Hast du so geschrien?", fragte ich leise, klang dabei aber seltsam atemlos.

"Nein. Das warst du", sagte er ebenso leise und schloss die Tür. "Weinst du?"

"Hä, nein? Ich-", ich verstummte, als ich meine nassen Wange berührte. Ich hatte tatsächlich geweint, selbst mein Oberteil war mit Tränen bedeckt. "Oh."

Damian runzelte die Stirn, scheinbar wusste er nicht, was er machen sollte. "Hast du schlecht geträumt oder so?"

Ich wischte mir verlegen über die Wangen, um die Tränen wegzubekommen, aber sofort waren meine Handflächen total nass. "Nein - doch, ich - ich weiß es nicht", murmelte ich und versuchte mich an meinen Traum zuerinnern.

"Hast du oft solche Albträume?", fragte er und kniete sich neben meinem Bett, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.

Ich zuckte mit den Schultern. "Kann schon sein."

Er starrte mich einen Moment an. "Rück mal ein Stück", sagte er dann und rückte mich an den Rand des Bettes.

"Was, nein, ich - das ist doch nicht nötig", protestierte ich, als er sich neben mir plumpsen ließ und die Bettdecke über uns ausbreitete. Als sein nacktes Bein mein nacktes Bein berührte, wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich nur ein ärmelloses Shirt und eine kurz Shorts trug und er ein weißes T-Short und seine Boxershorts. Verlegen schaute ich zur Decke und traute mich nicht, mich zu bewegen.

Ich hörte ihn leise über meine Reaktion lachen.

"Ich hatte früher auch ziemlich heftige Albträume", sagte er dann wieder ernst. "Vermutlich grenzte es schon an Schlafstörungen. Ich bin so ziemlich jede Nacht von diesen Albträumen aufgewacht und konnte die halbe Nacht nicht mehr schlafen. Ich hab nur vier Stunden in der Nacht schlafen können."

"Und wieso?", fragte ich, weil ich nicht nichts sagen wollte.

Damian zögerte. "Sagen wir mal so: ich hatte keine besonders leichte Zeit damals. Es sind Dinge passiert, die mich ... verrückt gemacht haben. Aber das alles ist schon fast zwei Jahre her, schon halb vergessen", fügte er betont munter hinzu. Ich drehte mein Kopf kurz zu ihm und sah, dass auch er sein Blick auf die Decke gerichtet hatte, als wäre er ganz weit weg mit den Gedanken. Was auch immer es war, er hatte es nicht 'halb vergessen', aber ich traute mich nicht nachzufragen.

Eine Weile sagte keiner was, wir beide hingen unseren eigenen Gedanken nach und fast hätte ich vergessen, dass Damian neben mir im Bett lag, als er mich aus den Gedanken riss.

"Wir sollten schlafen. Schließlich hast du morgen Schule", sagte er lächelnd.

"Du hast auch Schule", gab ich zurück.

"Muss ich in den letzten Tagen wohl vergessen haben."

Ich grinste, was mir aber ganz schnell verging, als Damian sich zur Seite drehte, mit dem Kopf in meine Richtung und somit keine Anstalten machte, aus meinem Bett zu kommen.

"Willst du etwa hier schlafen?", fragte ich und merkte, wie meine Stimme mindestens zwei Oktaven höher sprang.

"Natürlich", grinste er. "Ich hab mir sagen lassen, dass man mit mir unglaublich gut schlafen kann."

"Oh man", seufzte ich, wegen der absichtlichen Zweideutigkeit und vergrub mein Gesicht in die Decke. "Auf die Info hätte ich gern verzichten können."

"Hättest du nicht", widersprach Damian lachend. "Am liebsten hättest du es selbst gern herausgefunden, gib es zu."

"Ich schwöre dir, ich trete dich gleich aus dem Bett", warnte ich ihn.

"Okay", er hob abwährend die Hände, "okay. Also darf ich hier schlafen?" Nun hob er grinsend seine Augenbrauen und wartete auf meine Antwort.

"Wenn ich nein sagen würde, würdest du gehen?"

"Vermutlich nicht."

"Gute Nacht", sagte ich schlicht, drehte mich zur Wand und versuchte die Nervosität, die durch meinen Körper ging auszublenden und konzentrierte mich stattdessen auf die Wärme, die von Damian ausging. Mein hämmerndes Herz beruhigte sich allmählich wieder.

"Gut' Nacht", murmelte Damian nach einer Weile leise, als ich dann auch schon in einen traumlosen Schlaf fiel.

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