Kapitel 60

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Am und Susan laden mich an einer Bushaltestelle im Zentrum der Stadt ab. Dabei sehen sie mich besorgt an und fragen mich gleich mehrmals, ob ich nicht irgendetwas bräuchte. Dankend lehne ich ab und warte, bis das alte Auto um die nächste Ecke biegt. Dann gehe ich zur Bahnhaltestelle und steige ein. Ich fahre mindestens eine halbe Stunde bis ich am Ziel angekommen bin. Ein alter Bahnhof, verfallen und mit eingeschlagenen Scheiben im Wartehäuschen, mitten im Nirgendwo, umgeben von Wald. Von dort aus sind es dann noch einmal 40 Minuten, die ich laufe. Dabei dringe ich immer tiefer in den Wald ein, so weit, dass man normalerweise schon längst bezweifelt hätte, dass es hier irgendeine Art der Zivilisation gibt.

Die ganze Zeit muss ich an Susans und Ams Worte denken. Schon während sie sie ausgesprochen haben, sind sie mir wichtig vorgekommen. Mir scheint, ich muss sie auch auf Rejalia und die gegenwärtige Situation beziehen.

Vielleicht ist es an der Zeit für mich, mal ernsthaft über die Zukunft des Landes nachzudenken. Bisher ging es mir schließlich die meiste Zeit mehr darum, meinen Kopf bei meinem Körper zu behalten, als tatsächlich die beste Wahl zu treffen. Es ging uns allen nur darum, das Volk zu beruhigen. „Zufriedenstellen und Ablenken" wie Am es nennt.

Nachdenklich streiche ich mir eine Strähne aus der Stirn und blicke mich aufmerksam um. Ich kann es mir nicht leisten, unaufmerksam zu sein. Das führt am Ende nur dazu, dass ich mich verlaufe oder in irgendeine Falle latsche, die wahrscheinlich für Tiere aufgebaut ist. Als ich dann eine Fichte sehe, in deren Rinde ein kleiner Buchstabe, ein O, geritzt wurde, bin ich mir sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. O steht dafür, dass man sich östlich vom Haus befindet. Ein paar Meter weiter finde ich zwei weitere Buchstaben, ein B und direkt darunter ein C. Noch etwa zwei Drittel Kilometer. Anscheinend benutzen die Menschen das Alphabet noch immer für eine bessere Orientierung. Ein Fehler, das hat uns meine Mutter schon immer gepredigt. Der Grund, wieso solche Quartiere so oft auffliegen.

Da erinnere ich mich wieder daran, wieso ich eigentlich hier hergekommen bin. Sofort schlage ich ein zügigeres Tempo ein. Ich kann mir meine Gefühle nicht richtig erklären. Aber irgendwie habe ich Angst um die Jäger. Obwohl ich nie wirklich ein freundschaftliches Band zu ihnen hatte.

Doch sie sind eben mein Umfeld für mehrere Jahre gewesen, ein wichtiger Teil meines Lebens, der einzige Kontakt zu jemand anderem als Mum.

Als ich bei dem Haus ankomme, setzt mein Herz kurz für einen Schlag aus. Es sieht irgendwie schäbiger und heruntergekommener aus, als das letzte Mal, als ich es gesehen habe. Und das möchte schon was heißen. Wie immer ist es groß, aber eher in die Breite, damit es durch die Bäume verdeckt wird. Dabei scheint sowohl das Dach als auch der Boden in der Mitte ein wenig durchzuhängen. Im Dach fehlen außerdem mehrere Ziegel und die ausgeblichene Farbe an den Wänden blättert ab. Dadurch wirkt das Haus verlassen und unbewohnt. Fehlt quasi nur noch eine Tür, die aus den Angeln hängt und ein Schwarm Fledermäuse auf dem Dachboden.

Eigentlich gut, so sollte es auch immer sein. Aber mittlerweile wirkt es so heruntergekommen und baufällig, dass ich mir relativ sicher bin, dass es tatsächlich unbewohnt ist. Zögernd trete ich die paar Stufen hinauf zur Eingangstür und überspringe dabei die zweite, denn sie ist morsch und ich habe nicht wirklich Lust auf einen verstauchten Knöchel. Laut klopfe ich an und bin dabei froh, dass die Tür verschlossen ist und nicht aufschwingt, wie in irgendwelchen billigen Horrorfilmen.

Lange ist es still, dann höre ich gedämpfte Stimmen, kann aber keine einzelnen Worte ausmachen. Schuld sind daran die Wände. Mum hat extra dafür gesorgt, dass sie möglichst geräuschundurchlässig sind.

Die Tür schwingt auf und gleichzeitig höre ich eine junge Stimme sagen: „- und sie sind verletzt oder so!" Als die Tür ganz offen ist, starrt mir kurz ein kleines Mädchen, vielleicht acht Jahre, erschrocken in die Augen. Sie hat struppiges, dunkelblondes Haar, tiefe Schatten unter ihren Augen und ein spitzes Kinn. Ihr Blick huscht kurz hinter mich, als erwarte sie da noch mehr Vampire, dann tritt sie einen Schritt zurück und versucht, die Tür wieder zuzuknallen. Doch dabei ist sie viel zu langsam. Mein Fuß klemmt bereits zwischen Tür und Angel.

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