Kapitel 55

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Ich habe an dem Tag des Anschlags die Menge nur für einen kurzen Augenblick verstummen lassen. Seitdem werden die Rufe mit jedem Mal lauter, intensiver.

Als wir mit dem Auto endlich auf das Anwesen gefahren sind, sind wir an mehreren Soldaten vorbei, die vollkommen überfordert von der Lage waren. Sie wussten nicht, ob sie die Demo auflösen sollten oder nicht. Am Schluss haben sie einfach darauf geachtet, niemand auf das Grundstück zu lassen, mit der Hoffnung, dass alles sich von selbst auflösen würde.

Doch es ist nichts besser geworden. Wir lassen die Leute demonstrieren, ansonsten werden sie nur noch wütender sein und uns eine Einschränkung der Redefreiheit vorwerfen.

Teilweise, wenn der Wind gut steht und ich das Fenster offen habe, höre ich ihre Rufe sogar bis in mein Zimmer. Das sind nicht gerade schöne Einschlaflieder.

Wir dachten, nach einem Tag würden die Leute müde werden und nach Hause gehen. Fehlanzeige. Stattdessen sind es nur mehr geworden und sie haben Zelte mitgebracht. Jetzt hausen sie dort seit Tagen und haben ein System entwickelt. Wer in welchem Zelt schläft, wie sie an Nahrung gelangen, wann sie demonstrieren und wo noch. Denn das ist nicht der einzige Protest. Sie protestieren im ganzen Land.

Aber nicht nur bei uns. Auch Chëres hat mit Aufständen zu tun. Und Attentate. Seit dem Tod des Königs fanden vier weitere Attentate statt. Drei bei uns, eines bei ihnen. Und es sind gerade einmal ein paar Tage vergangen. Drei sind schief gegangen, bei einem sind vier unserer Soldaten verstorben.

„Bereit?", fragt mich Leira.

Lächelnd sehe ich sie an und drücke kurz ihre Hand. „Natürlich."

Das hier wird wohl eine der schwierigsten Aufgaben, die wir bewältigen müssen. Auf die Beerdigung gehen.

Ich weiß nicht wieso, aber anscheinend wurden uns beiden alle Besuche in Chëres übertragen. Ob das so eine gute Idee ist, bezweifle ich. Aber der Rest ist jetzt auch so gestresst und beschäftigt, dass Leira und ich wohl einfach am entbehrlichsten sind.

Wir beide tragen natürlich schwarz und werden die ganze Zeit versuchen, nicht aufzufallen. Einfach in der Menge untergehen. Nur leider wird das ein wenig schwierig, wenn wir gleichzeitig auch eine Rede halten müssen. Wir sitzen an ihr, seit wir von dieser Aufgabe erfahren haben. Und sie ist schlecht.

Na gut, der erste Teil geht noch, doch der zweite ist dumm. Einfach nur irgendwelche Floskeln. Ich weiß nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund habe ich dann auch noch vorgeschlagen, den schlechteren Teil zu übernehmen.

Leira und ich betreten den Saal. Viele Leute bemerken es zum Glück nicht einmal. Denn der Raum ist schon beinahe voll. So viele Leute aus aller Welt sind gekommen. Dennoch drehen sich ein paar Leute in unsere Richtung und funkeln uns böse an.

An der Rückwand führt ein Bogen mit Vorhängen in einen weiteren Raum. Und in diesem kann ich ganz hinten, gerade so, einen Sarg erkennen.

„Los, misch dich unter die Menge, dann fallen wir hoffentlich weniger auf.", wispere ich Leira zu. Schließlich sind wir inoffiziell für den Tod des Verstorbenen verantwortlich, auf dessen Beerdigung wir uns gerade befinden.

Zögernd schnappt sich Leira eins der Gläser mit Blutwein, trinkt es halb aus und steuert dann auf eine Gruppe Mädchen unseres Alters zu. Anscheinend kennen und mögen sie sich, denn sie begrüßen sich durch Umarmungen und lächeln einander zu.

Doch dann sehe ich den Blick, den sie sich hinter Leiras Rücken zuwerfen. Gut, keine Freunde, einfach nur Zicken mit einem schauspielerischen Talent.

Seufzend nehme ich mir auch ein Glas und gehe in den anderen Raum. Er ist etwas kleiner. Dafür gibt es zu beiden Seiten des Bogens Holztreppen, die auf den Rang führen. Sowohl dort oben als auch unten befinden sich mehrere Reihen Stühle.

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