G112ge (2)

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Zu den einzelnen Punkten:

1. Sprache: Die Sprache ist tatsächlich wirklich gut. Es gibt ab und zu mal ein paar kleine Rechtschreibfehler, Kommafehler oder Zeitensprünge (der eine große Zeitensprung zwischen dem ersten Kapitel und den anderen drei Kapiteln nehme ich an, war beabsichtigt?). Hin und wieder auch mal eine komische Formulierung (Augen können nicht wandern → der Blick wandert; Miene verzieht sich zu einem Lächeln → die Lippen verziehen sich), aber das fällt nicht weiter ins Gewicht, weil es im Gegenzug auch einige wirklich schöne Formulierungen gibt (Das strahlende Grün der Blätter filtert die Sonnenstrahlen so, dass sie ein Mosaik aus Lichtflecken auf den Waldboden werfen). Also an der Sprache hab ich im Grunde nicht viel auszusetzen.

2. Idee: Die Idee ist auf jeden Fall außergewöhnlich, ob sie auch durchdacht ist, kann ich nicht sagen, weil ich (um ganz ehrlich zu sein) glaube, dass ich die Geschichte nicht ganz verstanden habe. Sie ist für meine Begriffe ziemlich surreal und ich weiß nicht genau, wie die einzelnen Teile (die ich für sich genommen sehr interessant finde und die jeweils auch als Ausgangspunkt einer eigenen Geschichte gereicht hätten) zusammenhängen. Der Anfang ist wirklich toll und auch das mit dem Knöchelchen und dem Phönix ergibt für mich alles einen Sinn. Das war sehr vielversprechend. Dann kam der Teil mit dem Jungen an der Bushaltestelle und es wurde schon sehr kryptisch. Ist einer der beiden Jungen der Junge vom vorangegangenen Teil oder ist der Zusammenhang die Motte, die vom Licht angezogen wird? Der nächste Teil befasst sich mit dem Jungen im Wald, der (denke ich) der Phönix sein könnte? Und im letzten Teil sind das die Mann und Frau aus dem vorangegangenen Teil? Also mir fehlt irgendwas, anhand dessen ich das alles verknüpfen kann, ein Rahmen und ein richtiges Ende, das alle Fäden miteinander verknüpft.

3. Wissen/Hintergrund: Ich denke, die Geschichte spielt in unserer Welt, aber sicher sagen könnte ich es nicht. Wirkliche Recherche war für diese Art Geschichte aber auch nicht nötig; dafür ist sie zu mosaikhaft und befasst sich zu wenig mit politischen oder historischen Themen. Wirklich nötig ist das nicht, weil Kurzgeschichten ja oft für sich den Anspruch haben, kontextunabhängig zu sein. Allgemein sind mir aber ein paar Fragen gekommen (z.B. Wie der Junge feststellen kann, dass es sich um eine Adresse handelt, wenn er noch nicht lesen kann (besser wäre es da gewesen zu sagen: “diese Konstellation von Buchstaben kannte er”), woher er den Ort überhaupt kennt und wie er allein dahingekommen ist. Und wieso darf ein Junge, der so jung ist, dass er noch nicht lesen kann, ein Feuerzeug haben? Wieso kann er es überhaupt schon bedienen (das hab ich bis heute nicht gelernt)? Wieso beschreibt er ihren Rock als altmodisch und was heißt das? Wieso spiegelt sich der Laternenschein in einem Mantel? Was für ein Material ist das? Wieso kriegt der eine Junge so schnell einen blauen Fleck? Das ist doch sehr ungewöhnlich). Und eigentlich hab ich nach dem Lesen noch viel mehr Fragen, aber die haben weniger was mit dem Hintergrund und dem Wissen zu tun.

4. Figuren: Das mit den Figuren ist mir wirklich am schwersten gefallen. Du beschreibst die Figuren an und für sich ganz gut, auch wenn keine von ihnen einen Namen bekommt, was im Rahmen einer Kurzgeschichte ok ist, aber natürlich nicht zur Differenzierbarkeit beiträgt. Ich kann allerdings nicht sagen, wer der Protagonist der Handlung ist. Dafür springt die Geschichte zu schnell zwischen den Personen hin und her. Und auch was das Ziel der jeweiligen Personen sein soll, weiß ich nicht immer, weil es eher kurze Episoden sind, die eine einzelne Szene zeigen, ohne dass wirklich viel Handlung oder Figurenentwicklung passiert (das erste Kapitel mal ausgenommen, da sind Prota und sein Ziel einigermaßen klar). Einen Widerstand hab ich dementsprechend auch nicht identifizieren können. Ich würde sagen, hier passt die Geschichte mit ihrer Erzählweise einfach nicht in das vorgegebene Schema. Trotzdem muss ich das ja irgendwie bewerten. Die Figuren sind an sich interessant, aber ich weiß schlicht zu wenig über sie, um beurteilen zu können, ob sie charakter-kongruent handeln oder nicht. Wie schon gesagt, man hätte jede dieser Episoden nehmen und sie etwas ausbauen können, um eine eigene Kurzgeschichte zu haben, weil die einzelnen Ideen schon echt gut sind.

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