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Beim Lesen wird schnell klar, dass diese Geschichte etwas anders ist.

Der Einstieg ist sehr gemächlich und das Erzähltempo durchweg sehr langsam.  Es fehlen eine Spannungskurve und ein richtiger Höhepunkt, aber dafür ist die gewählte Erzählperspektive sehr interessant und außergewöhnlich:

Denn uns wird aus der Sicht eines Vogels in einer Greifwarte (?) erzählt. In sieben kürzeren Kapiteln berichtet der Milan vom Ablauf eines Tages.

Schnell merkt man, dass der/die Autor:in sich in diesem Bereich bestens auskennt und viele Detailinformationen und Sachwissen in der Erzählung unterbringt. Die Liebe zu diesen Tieren wird deutlich und auch wie sehr der/die Verfasser:in für dieses Thema brennt. Jetzt geht es nur noch darum, dieses Feuer durch ein paar erzähltechnische Kniffe so richtig zur Geltung zu bringen.

Manchmal irritiert mich die gewählte Sprache des Vogels: Er benutzt zum Beispiel technische Worte wie „vorprogrammiert“ und erzählt von seinen „Genen“, gibt aber an anderer Stelle vor, nicht alles zu verstehen, was die Menschen tun oder sagen. Von der Relevanz seines Körpergewichts oder den Zahlen versteht er nach eigener Aussage nicht viel. Das passt hin und wieder nicht ganz zusammen.

Fast durch die ganze Geschichte hinweg, wird uns die Pflegerin nur als „Blondine“ oder „Blondie“ präsentiert, was ich ebenfalls einen seltsamen Fokus für einen Vogel finde. Was kümmert ihn die Haarfarbe seiner Tierpflegerin? Sollte er nicht eher betonen, dass es seine Hüterin, Trainerin oder Futtergeberin ist? Durch dieses oberflächliche Wort wirkt die Beziehung von Tier zu seinem Menschen sehr kühl und distanziert, was ja eigentlich nicht der Fall ist. Gegen Ende bezeichnet er sie zum Beispiel als sein „lebendiges Taxi“. Mit diesem Begriff wird der Bezug des Vogels zu seiner Pflegerin deutlich, aber ob ein Vogel so etwas wie ein Taxi kennen kann? Das sei an dieser Stelle einmal dahingestellt.

Stellenweise wirkt der Vogel wie ein Sachbuch. In Kapitel I lädt er jede Menge Information auf den Leser ab. Dabei spricht er nicht einmal von sich oder in der Ich-Form sondern generell von „einem Greifvogel“. Damit wirkt dieser Teil viel zu sachlich und gefühllos. Die Wirkung wäre eine andere, wenn er von sich in der Ich-Form erzählen würde.

Beispiel: Krankheiten sieht man einem Greifvogel äußerlich erst dann an, wenn es fast schon zu spät ist. Das hängt damit zusammen, dass ein kranker und schwacher Vogel in der Natur leichte Beute wäre.

Anders: Eine Krankheit würde man mir erst ansehen, wenn es zu spät ist…

Solche Stellen würden sich auch eignen, um die Spannung ein wenig zu erhöhen. Der Leser könnte ein wenig an der Nase herumgeführt werden, wenn er z.B. nicht gleich erfährt, dass mit dem Milan alles in Ordnung ist. Solche kurzen Spannungs-Momente würden dafür sorgen, dass man sich dem Tier verbundener fühlt. Mitfiebert. Mit ihm miterlebt, was passiert, eine Beziehung zu ihm aufbaut. So bekommt man es beiläufig erzählt, ohne dass es wirklich von Bedeutung ist. Interessant zu erfahren, mehr aber auch nicht.

Den Unmut der Pflegerin zu Beginn von Kapitel II könnte man auch anders wiedergeben. Mit „Show“-Anteilen, anstatt mit einer reinen Erzählung („Tell“). Sie könnte, während sie den Kot aufkehrt, ein paar Worte sagen und der Milan könnte ihr in seinen Gedanken „antworten“. Ein Gespräch lässt einen gedankenlastigen Text lebendiger und dynamischer wirken. Statt alles nur mitgeteilt zu bekommen, erfährt der Leser die Inhalte aus dem Geschehen.

Im weiteren Verlauf von Kapitel II hält der Vogel ein Plädoyer für die wertvolle und wichtige Arbeit der Vogelwarte und stellt sich dem Vorwurf, Tiere in Gefangenschaft zu halten, sei Tierquälerei. Man will es dem Vogel gern glauben, da er es ja am besten wissen muss.

Was ich allerdings nicht verstehe, ist die Andeutung, dass es ihm freistünde, seinen Körper zu verlassen und sich einen anderen zu suchen. Diese Stelle wirkt viel zu philosophisch und wirft Fragezeichen auf. Auf einmal erhält der Vogel eine höhere Mission und ein viel tieferes Bewusstsein als es bisher in der Geschichte den Anschein machte. Das passt für mich nicht so ganz zum bisherigen Inhalt. (Vielleicht würde dieses Kapitel mehr Dynamik erhalten, wenn man es als Art „Dialog“ mit der Pflegerin aufziehen würde? Ich könnte mir gut vorstellen, dass eine liebvolle Tierpflegerin während einer eintönigen Arbeit wie dem Reinigen des Geheges mit den Tieren redet. Dann könnte der Vogel ihre Impulse aufgreifen und seine Gedanken dazu äußern.)

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