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Deine Geschichte ist mit 5018 Wörtern eigentlich schon minimal über die maximale Grenze hinaus, aber ich denke, bei der kleinen Fußspitze übers Maximum kann man noch ein Auge zudrücken. Aufgeteilt in fünf Kapitel schaffst du einen schönen Spannungsbogen für eine Geschichte, die sich gut wegliest.

Deine Rechtschreibung ist sehr gut (nur zwei kleine Fehler bei „schneebdeckten" statt „schneebedeckten" und „dagegen anwirken" statt „dagegen an wirken"), genauso Grammatik und Zeichensetzung. Ein schöner Lesefluss kommt durch ausführliche, aber nicht überladene Beschreibungen und einen gut dosierten Einsatz von Metaphern. Den Stil brichst du an einigen wenigen Stellen ein wenig (zum Beispiel sagt der König in Kapitel 1 „Was ein Tag", was im Vergleich zum restlichen Stil doch sehr umgangssprachlich ist, also wäre „was für ein Tag" vielleicht besser und an einigen Stellen schießt du vielleicht ein wenig übers Ziel hinaus – etwa bei „fleischroter Farbe" oder „gülden"), aber das sind kleinere Auffälligkeiten.

Du neigst zu ausführlichen Beschreibungen. Sowohl die Kleidung der Personen wird an einigen Stellen sehr detailliert beschrieben, wo das so extrem gar nicht nötig wäre und ein bisschen den Lesefluss stört – zum Beispiel bei Edzards erstem Auftritt.

Etwas, was mir bei deiner Geschichte wirklich sehr aufgefallen ist, ist dass deine Welt sehr groß und detailreich ist – ein bisschen zu groß für die 5000 Wörter. Im ersten Kapitel gerätst du immer wieder in kleinere „infodumps", wo du die Handlung kurz unterbrichst, um dem Leser die Welt vorzustellen. Und auch später tauchen immer mehr Namen und Orte und fremde Begriffe auf, bis man ein bisschen den Überblick verliert, besonders als man im Kapitel 2 in einem Absatz die Worte „Lynholt", „Kwylla", „Maladian" und „Albenheim" an den Kopf geworfen bekommt.

Ich weiß, dass man oft alles, was man sich überlegt hat, in der Geschichte irgendwo unterbringen möchte, aber hier würde ich dir empfehlen, nochmal zu schauen, wie viele der Infos wirklich handlungsrelevant sind und mich auf die zu beschränken.

Das coolste an deiner Geschichte ist zweifelsohne die Sicht des Vogels. Es ist eine grandiose Idee, eine Geschichte aus Sicht eines Vogels zu erzählen, der im Gemach des Königs in einem Käfig lebt. Seine Hintergrundgeschichte ist für mich ehrlich gesagt ziemlich in den Hintergrund gerückt, aber seine Erzählperspektive war wirklich grandios. Sein Charakter war außergewöhnlich und interessant, die gewisse Eitelkeit, wenn es um sein Aussehen und seine Stimme ging, die leicht abfällige Haltung gegenüber den Menschen, die er beobachtet – das alles hat dazu beigetragen, dass es wirklich amüsant war, die Geschichte zu lesen. Insbesondere, da keiner der handelnden Charaktere wirklich sympathisch war – man konnte die Haltung des Vogels wirklich mitfühlen und seine spöttischen, sarkastischen und teils ein bisschen fiesen Kommentare haben mir wirklich aus der Seele gesprochen.

Der Plot Twist am Anfang vom fünften Kapitel hat mich wirklich kalt erwischt, damit hatte ich nicht gerechnet, also touché, der war gut ausgeführt. Das Ende der Geschichte hat mich allerdings nicht mehr so sehr überrascht.

Grundsätzlich war die Handlung jetzt nichts, was noch nie dagewesen ist. Der König, der in seiner Vergangenheit eine böse Tat an einer Frau aus einer marginalisierten Gruppe begangen hat und deren Bruder, der jetzt kommt, um Rache zu nehmen, sind nicht unbedingt neu. Aber ich denke, das war auch nicht so dramatisch, schließlich war denke ich die Idee der Geschichte vor allem die Erzählperspektive und das ist dir wirklich gut gelungen. Ein ungewöhnlicherer Handlungsstrang hätte die Geschichte allerdings noch ein wenig mehr abgerundet.

Ich habe mich allerdings im dritten Kapitel sehr gefreut, als die Geschichte auf einmal zum Kleinkrimi wurde. Die handelnden Charaktere waren sehr schön differenziert und die Dialoge teilweise sehr witzig zu lesen. Gut, die Verdächtigen sind auch in sehr stereotype Rollen gefallen (die Geliebte, der Sohn, der Leibarzt, der Heerführer und der gute Freund aus vergangenen Tagen), aber das ist in einer Kurzgeschichte absolut in Ordnung, man muss das Rad ja auch nicht neu erfinden.

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