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Es handelt sich hier um eine ruhige, traurige Geschichte aus dem Alltag eines Paares, von dem eine Partnerin erkrankt ist. Was genau sie hat oder wie es dazu gekommen ist, wird nicht erklärt, aber sie scheint unter einer Art Amnesie oder Demenz zu leiden. Die zweite, gesunde Partnerin, scheint sich mit der Situation insofern abgefunden zu haben, dass es für sie vollkommen außer Frage steht, dass der Zustand ihrer Frau sich jemals wieder drastisch ändern könnte. Bei der Frage nach dem Ziel der Protagonistin bin ich deswegen ein wenig ins Straucheln geraten, denn in der Geschichte selbst agiert sie nicht wirklich, sie reagiert nur. Ich denke dennoch, dass sie ein klares Ziel hat, auch wenn sie sich das nicht eingestehen will, um nicht enttäuscht zu werden. Sie pflegt ihre Frau und hegt zwischen den Zeilen trotz allem die Hoffnung und den Wunsch, dass alles sich zum Guten wenden wird.

Den Einstieg finde ich sehr gelungen. Genialer Kniff, nicht mit dem eigentlichen Ereignis, sondern mit dem Morgen "danach" anzufangen, denn natürlich fragt man sich als Leser direkt, was denn zuvor geschehen ist. So wird man gleich in die Geschichte gezogen und möchte unbedingt weiterlesen. Schön finde ich auch, wie Du die Hinweise langsam einstreust. Wer ist der Erzähler, wer ist diese Frau, warum schreit sie, in welcher Beziehung stehen die beiden zueinander? Du wirfst sehr viele Fragen auf und beantwortest sie immer nur häppchenweise. Allgemein fand ich Dramaturgie und Spannungsaufbau sehr gelungen. Es gibt keine langatmigen Stellen, die Spannung wird konstant gehalten und steigert sich bis zum Schluss, wo alles in einem Höhepunkt – dem Erkennen – gipfelt.

Mir fällt auf, dass Du manchmal Wörter falsch verwendest. Eine einzelne Frau kann nicht "unterschiedlich" sein, sie kann anders sein im Vergleich mit einer früheren Version oder mit anderen. Auch wappnet man sich nicht "auf" etwas, sondern gegen oder für etwas. Mir sind mehrere solcher Stellen aufgefallen, weshalb es im Raster an der entsprechenden Stelle auch Punktabzug gegeben hat.

Teilweise werden Satzzeichen falsch verwendet. Ein Fehler, der zum Beispiel häufig vorkam, waren die Kommas in Einschüben. Wenn ein Komma nötig ist (das ist der Fall, wenn auch ohne Einschub an der entsprechenden Stelle ein Komma stünde), muss das Komma nach dem zweiten Gedankenstrich stehen, nicht im Einschub selbst.

Etwas mehr Abzug gab es außerdem bei den Figuren. Beide wirken ein wenig blass und austauschbar, man erfährt kaum etwas über sie. Das ist sicher auch der Kürze geschuldet – immerhin bekommt man nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Alltag der beiden gezeigt. Dennoch hätte man hier etwas besser charakterisieren können.

Gut gefallen hat mir, dass auf die genauen Umstände der Erkrankung nicht weiter eingegangen wird. Natürlich ist man neugierig und ich habe mich gefragt, was der kranken Partnerin passiert ist, aber im Nachhinein passte es für mich so ganz gut. Die Geschichte hat einen sehr klaren Fokus: das Innenleben der gesunden, pflegenden Partnerin, ihre Verzweiflung, ihre Liebe, Ängste, aber auch Hoffnungen.

Auch wenn die Kurzgeschichte eigentlich mit dem Ende des entsprechenden Tages beginnt (bzw. mit dem nächsten Tag) und man dadurch noch erfährt, dass sich nichts Grundlegendes an der Situation geändert hat, gibt es dennoch einen Hoffnungsschimmer, weil angedeutet wird, dass die kranke Frau Fortschritte gemacht hat.

Deine Stärken sehe ich eindeutig im Erzeugen und Halten von Spannung und Atmosphäre. Arbeiten könntest Du vielleicht an Show don’t Tell und der Figurenentwicklung.

Insgesamt hat mir Deine Geschichte trotz der paar Kritikpunkte sehr gut gefallen. Sie lebt von ihrer drückenden Atmosphäre und Emotionalität, ist ruhig und berührend und doch geschieht zwischen den Zeilen so viel.

Gesamtpunktzahl:  461 von 545

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