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Der Einstieg mit den kurzen Ellipsen in den ersten drei Absätzen weckt das Interesse des Lesers.

Der Autor/Die Autorin hat viele mitunter sehr detailreiche Beschreibungen eingeflochten, die manchmal angesichts der prekären Situation der Protagonistin vielleicht etwas zu sehr ausufern. Wer achtet auf das Lichtspiel auf einem Ast, wenn man unter einem schweren Ast begraben liegt, sich kaum bewegen und sich an nichts erinnern kann?

Die langwierigen Beschreibungen nehmen der Handlung ein wenig die Spannung in meinen Augen, obwohl ich vermute, dass sie diese gerade erzeugen sollten. Alles, was die Protagonistin will, ist freikommen und zurück in die Zivilisation gelangen (mehr weiß man bis dahin nicht über ihre Situation oder sie selbst) – Spannung und Interesse, mehr herauszufinden, sind jedenfalls vorhanden – trotzdem erfährt der Leser Dinge, wie dass ihr Dreck auf der Kleidung gleichgültig sei – kann man in dieser Situation daran einen Gedanken verschwenden?

Inhaltliche Frage: Es gelingt ihr, den Ast von sich zu rollen und sich zu befreien. Sie steht auf und läuft los. Einfach so? Keine Schmerzen? Sie untersucht sich nicht einmal? Nichts tut weh? Der einzige Gedanke gilt der feuchten Erde auf der Kleidung.

Dann folgt eine eher neutral gehaltene Umgebungsbeschreibung. Die Verwunderung ist kaum spürbar. Die Protagonistin entscheidet sich für eine Richtung und weiter geht’s.

Schade, hier wurde in meinen Augen Potential liegen gelassen und bei 3700 Wörtern Gesamtlänge ware noch ein wenig Vertiefung/Spannungsaufbau möglich gewesen. Es wirkt als hätte der Verfasser/die Verfasserin eine Plotpunkt im Kopf gehabt (sie kommt frei) und jetzt weiter im Text.

Das erste Kapitel endet mit ein paar kryptischen Andeutungen und hinterlässt bewusst ein paar inhaltliche Fragezeichen. Noch weiß man nicht viel.

Gelungen: Ich als Leser bin geködert und will mehr  herausfinden. Interesse erfolgreich geweckt.

Es folgt ein Wechsel der Perspektive im zweiten Kapitel zu einem Er-Erzähler. Dank der Namenskennzeichnung in der Kapitelüberschrift ahne ich bereits den Zusammenhang mit dem Titel.

Inhaltliche erlebe ich ein Deja-Vue: Wieder ein Erwachen ohne Orientierung oder Erinnerung. Aber auch beim zweiten Mal ist es nicht weniger spannend. Auch hier sind die Gedanken/Beschreibungen relativ harmlos und nüchtern anbetracht der Tatsache, dass ihm Erinnerungen und das Zeitgefühl fehlen. Hauptsache die Katze wird gefüttert.

Nach Kapitel 4, einigen Perspektiv-Wechseln und einigen inhaltlichen Deja-Vues ahnt man allmählich, was Sache ist und es verliert seinen Reiz. Dann folgt ein unerwarteter Höhepunkt in Kapitel 4 mit einer überaschenden Erinnerung. Die aber leider inhaltlich etwas isoliert stehen bleibt, obwohl sie die Schlüsselszene zur Deutung sein könnte (oder sogar sollte?) – ich hätte mir später noch eine kurze inhaltliche Anknüpfung daran gewünscht (z.B. im Dialog am Ende).

Danach fehlte mir die Spannung und ich hätte mir im 5. und letzten Kapitel noch etwas mehr Dramatik vor der endgültigen (und für mich bereits vorhersehbaren) Auflösung gewünscht. Denkbar: Ein Aufbegehren, ein Fluchtgedanke, Widerstand, Gewalt, da der Protagonist einen Betrugsversuch/Verbrechen wittert... irgendetwas in diese Richtung. Er schluckt alles in meinen Augen sehr gelassen, öffnet sogar interessiert die Tür und lässt die Fremden in seine Wohnung. Auch fehlt mir die Auflösung der Erinnerung aus Kapitel 4 und was es damit auf sich hat. Mir wird nicht ganz klar, ob es eine echte Erinnerung oder nur eine Einbildung ist.

Inhaltlich stellt sich mir auch die Frage, ob eine Psychologin jemand mit diesen Symptomen nicht sofort in eine Klinik zur weiteren Behandlung einweisen würde und auch die “gelassene” Reaktion der Mutter am Telefon erscheint mir nicht einleuchtend. Von einer Mutter hätte ich in dieser Situation ein wenig mehr Irritation und Sorge erwartet. Sie stattdessen, geht flüssig dazu über, ihren Sohn zu siezen und kündigt ihren Besuch auch noch an, was diesen dann kein bisschen überraschend mehr sein lässt. Der Sohn scheint fünf Minuten im Stillstand zu verharren und öffnet einfach die Tür.  Auch an dieser Stelle wurde Potential im Spannungsaufbau kurz vor der finalen Auflösung verschenkt. Lass den Leser im Unklaren, ob sich die Frau verwählt hat oder was eigentlich Sache ist. Lass den Protagonisten grübeln, was los ist und was er tun soll. Lass die Besucher überraschend klingeln (ohne es schon vorher im Telefonat anzukündigen) und baue den Showdown weiter aus, damit die Geschichte bis zum Ende spannend bleibt und die Auflösung überrascht. Das Potential dazu ist auf jeden Fall vorhanden.

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