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Liebe/r Autor/in, zunächst möchte ich mich dafür bedanken, Deine Geschichte lesen zu dürfen. Deine Idee, ein Tagebuch zum Schlüsselelement zu machen, ist vielleicht nicht die neueste Eigenkreation, aber die Geschichte wirkt im Allgemeinen doch recht erfrischend.

Dir sei mein Respekt gezollt, dass Du es bis zum Ende geschrieben hast. Du kannst wirklich stolz auf Deine Leistung sein. 

Als ich die Geschichte das erste Mal durchgelesen habe, habe ich bewusst das Sprachliche außen vor gelassen. Knapp zusammen gefasst geht es um Liam, ein neunzehnjähriger Junge, der in einem Café arbeitet und eines Tages ein Tagebuch in der Bahn findet. Er nimmt es ohne besonderen Grund mit und findet anschließend heraus, dass seine Besitzerin ein Geistermädchen namens Mary Julie ist, welches zum Zeitpunkt ihres Todes fünfzehn Jahre alt war. Gemeinsam lüften sie das Geheimnis um Marys Tod.

Das ist ungefähr alles, was man über deine Hauptfiguren erfährt. In einem Satz hat Mary erwähnt, Liam würde „nicht hässlich“ aussehen. Mich würde als Leser interessieren, wie er wirklich aussieht - besitzt er besondere Merkmale, die ihn äußerlich auszeichnen könnten? Was gibt ihm einen Wiedererkennungswert? Auch wird zu seiner Persönlichkeit nicht sonderlich viel gesagt. Was macht ihn so besonders, dass ausgerechnet er das Tagebuch gefunden hat? Ist es wirklich Zufall gewesen? War es nur, weil er in diesem Café tätig war? Warum hat es dann keinen anderen Mitarbeiter erwischt? Hier hätte ich mir mehr von der Charakterisierung Deiner Figuren gewünscht, aber vielleicht liegt das auch daran, dass Du beim Schreiben das Augenmerk auf die Falllösung gelegt hast.

An manchen Stellen hatte ich das Gefühl, Du hast „willkürlich“ ein paar Gründe herangezogen, damit die Geschichte weitergeht und versucht, die Logik mehr oder weniger zu „erzwingen“. Nur weil der Protagonist selbst findet, dass eine Aussage zweifelhaft klingt, macht sie nicht automatisch mehr Sinn. Zum Beispiel war ich doch recht unüberzeugt davon, dass ein Mordfall nach „30“ Jahren nicht aufgeklärt werden kann, wenn die Knochen des Opfers vom Täter aufgehoben wurden. Wenn die Knochen in seinem Keller waren, muss er Mary ja erst zu sich nach Hause gebracht haben. Gab es denn überhaupt keine Augenzeugen? Wenn sie nicht in seinem Haus umgebracht wurde, sondern im Café, wieso lagert er dann ihre Knochen extra in seinem Keller?

Oder die Nachricht von Liams Chef. Warum ausgerechnet an diesem Tag? Ja, es wird beschrieben, Liam sei selbst verwundert darüber, aber irgendwie wirkt es ein wenig zu sehr „gewollt“ platziert; nämlich, dass er einen freien Tag bekommt, um seinen Plan durchziehen zu können.

Ebenso irritierend fand ich die Tatsache, weshalb Liam nicht befragt wurde - warum hat man sich nicht darüber gewundert, wie er zu dem Knochenfund gekommen ist? Mit einem Einbruch würde er sich ebenso strafbar machen. Und das unberührte Schloss muss doch eigentlich auch Fragen aufwerfen (weil ja Mary als Geist eingetreten ist).

Was ich auch ansprechen möchte, ist die überraschend lockere Art, mit der Liam die Existenz von Geistern hingenommen hat. Das Einzige, worüber er sich gewundert hat, ist, wie weitere Sätze im Tagebuch auftauchen konnten. Natürlich ist der Verdacht von Übernatürlichem angebracht, nachdem sowas passiert, aber ohne Hinterfragung zu akzeptieren, dass es Geister gibt, erscheint mir doch ein wenig abrupt.

Die genannten „30 Jahre“ wären mein nächster Punkt. Wie ist Liam darauf gekommen, dass das Tagebuch vor dreißig Jahren hätte im Fundbüro abgegeben werden sollen? Der Polizist am Ende hat ebenfalls diese „30 Jahre“ erwähnt. Beim genaueren Drüberlesen hat sich eine Ungereimtheit gebildet; der Protagonist findet auf der ersten Seite des Tagebuchs ein Datum vor, das nach seiner Aussage 37 Jahre zurückliegt. Geschrieben steht, Mary wäre „vor 2 Tagen aufgewacht“, was bedeutet, dass sie beim Schreiben angenommen hatte, es wäre 37 Jahre vor der Gegenwart. Wie die „30 Jahre“ also damit zusammenhängen, ist mir schleierhaft.

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