Nach etwa einer Stunde Fahrt verdunkelte sich der Himmel und schon nach wenigen Minuten klebten dicke Regentropfen am Fensterglas. Fasziniert beobachtete ich, wie die Regentropfen an der Scheibe entlangliefen.

Der Himmel und der Regen erinnerten mich an den wohl schwersten Tag meines Lebens. An dem Tag, als meine Eltern beerdigt wurden, hatte der Himmel genauso ausgesehen. Die gleichen dicken Regentropfen prasselten damals auf meinen schwarzen Parka, während ich alles daran gesetzt hatte, nicht zusammenzubrechen.

Die kleine Kapelle war vollgestopft mit fremden Menschen, die Abschied von meinen Eltern nahmen. Ich saß ganz vorn in der ersten Reihe und starrte ununterbrochen auf die zwei schwarzen Urnen, die auf einem kleinen Tisch sorgsam aufbereitet waren. Ein Meer aus Blumen schmückte den Platz neben dem Rednerpult.

Obwohl meine Großeltern rechts und links von mir saßen, um mich vor den neugierigen und mitleidigen Augen der Umstehenden zu schützen, fühlte ich mich allein und schutzlos. An diesem Tag spürte ich das erste Mal, wie die Leere meine Venen entlangkroch und sich in meinem Inneren einnistete. Wie ein Parasit.

Ich hatte an diesem Tag sehr viel Stärke bewiesen, von der ich nicht wusste, dass ich sie besaß. Schon als ich die Kapelle als erste betreten hatte, war mir speiübel geworden und ich wollte am liebsten davonlaufen. Trotzdem setzte ich einen Schritt nach dem anderen, obwohl meine Beine unkontrolliert zitterten und mich mein Verstand anschrie, umzukehren.

Das Bild, das sich vor mir ergab, hatte sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Es war einfach nur makaber. Die Gesichter meiner Eltern strahlten mir durch den großen Bilderrahmen entgegen, während daneben ihre Überreste in zwei Gefäßen verrotteten.

Doch am schlimmsten war nicht das, was ich sah, sondern das, was ich hörte. Die ganze Zeit, während ich dort saß und die Urnen anstarrte, spielte die Trauerkapelle. Jedes Mal, wenn sie ein neues Lied anstimmten, zuckte ich zusammen und mir liefen neue Tränen über die Wangen. Alles in mir schmerzte. Der Druck, der auf mir lastete, drohte mich mit jedem neuen Lied zu erdrücken.

Nachdem der Trauerredner geendet hatte, verließen wir zusammen die Kapelle. Es regnete in Strömen und ich dachte, der Himmel wollte mir damit zeigen, dass ich nicht allein war.

Als ich an das Grab trat und mit leeren Augen beobachtete, wie die Urnen in die Erde hinuntergelassen wurden, brach für mich endgültig eine Welt zusammen. Das war er also, der Moment des Abschieds.

Kurz nachdem ich erfahren hatte, dass Evan für eine längere Zeit nicht mehr aufwachen würde und ich alleine die Beerdigung überstehen musste, war für mich klar, dass ich eine Abschiedsrede halten wollte.

Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass jemand, der meine Eltern nicht einmal gekannt hatte, die letzten Worte über sie sprach und sie somit verabschiedete von dieser Welt, in der ich noch lebte. Sie hatten es verdient, dass ich die letzten Worte an sie richtete.

Und so stand ich vor dem offenen Grab und hielt mit zittrigen Händen das kleine Stück Papier fest umklammert. Mein Großvater hatte seine Hand beruhigend auf meine Schulter gelegt, während es um mich herum still wurde.

Mein Herz schlug wie wild. Der Schmerz, der mich zu Boden drückte, blockierte meine Stimme. Mehrmals setzte ich zum Sprechen an, doch meine Stimme versagte immer wieder. Unkontrolliert flossen mir Tränen übers Gesicht.

,,Es ist okay, Aza. Du musst das hier nicht tun'', flüsterte mir mein Opa beruhigend zu.

,,Schon okay'', erwiderte ich mit zittriger Stimme.

Ich faltete den kleinen Zettel auseinander, obwohl ich wusste, dass ich ihn nicht brauchen würde. Es war mein Halt. Ich brauchte etwas, an das ich mich klammern konnte, wenn ich die nächsten Minuten überstehen wollte.

Ich hielt meinen Blick Richtung Himmel gerichtet, als ich anfing, leise Abschied zu nehmen.

,,Oft haben wir gemeinsam den Himmel betrachtet. Wir lagen auf unserer Terrasse nebeneinander oder in meinem Bett Kopf an Kopf, wo man so schön in den Himmel schauen konnte. Mom hat es geliebt, wenn er sich orange-rot verfärbt hat und Dad liebte den Übergang von Lila zu Blau. Dad hat es geliebt, Bilder davon zu machen. Überall hingen seine Fotografien im Haus, die er stolz präsentierte. Mom hat dabei immer gelächelt und mich geküsst, weil sie mich von ganzen Herzen geliebt hat. Doch jetzt lieben die beiden nur noch den Himmel. Du hast den Himmel so geliebt, Mom, dass du immer in seiner Nähe sein wolltest. Du bist einfach gegangen und hast Dad mitgenommen, ohne mir noch ein letztes Lächeln zu schenken oder mir einen Kuss zu geben. Vielleicht verfärbst du jetzt den Himmel rosa-rot, weil du weißt, wie sehr es mich an dich erinnert. Vielleicht sitzt Dad jetzt da oben und wünscht sich, er könnte ein Bild davon machen. Wie soll ich es ertragen, wenn der Himmel sich lila färbt oder in einem Meer von Rottönen versinkt? Wer soll jetzt ein Foto davon machen und es aufhängen? Wer lächelt mich an und gibt mir einen Kuss? Ihr könnt das nicht, sonst wärt ihr jetzt nicht dort oben. Ihr wärt jetzt sonst noch bei mir und Evan, wenn ihr den Himmel nicht mehr geliebt hättet als uns...''


Ich öffnete meine Augen. Meine Wangen waren feucht und ich wischte mir schnell die Tränen aus dem Gesicht. Auch drei Jahre später tat es noch weh, mich an diesen Tag zu erinnern. Man konnte niemals jemandem erklären, wie schmerzvoll es war, sich von den Menschen zu verabschieden, die man liebte. Deswegen versuchte ich es erst gar nicht.

Mein Blick glitt zu dem Monitor, der die Ankunft in meiner alten Heimatstadt ankündigte. Der Zug wurde immer langsamer, bis er nach wenigen Minuten zum Stehen kam. Ich schulterte meinen Rucksack und verließ mit langsamen Schritten das Zugabteil Richtung Ausgang. Unruhe breitete sich lawinenartig in mir aus, als ich den Bahnsteig vor mir sah.

So schnell war ich wieder hier, in meiner persönlichen Hölle.

So schnell war ich wieder hier, in meiner persönlichen Hölle

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Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now